Schattenjagd.

Ich bin ein freischaffender Magier. Das heißt, ich lebe davon Flüche aufzuheben, Schutzsprüche gegen Brand, Wasser, Diebstahl und Termitenfraß auf wertvolle Gegenstände zu legen oder Geistern zu erklären, dass sie hier unerwünscht waren, und sie in ihre eigene Welt zurückzuschicken.
Wegen eines solchen Auftrags war ich jetzt auch hier: Ein Typ namens Körner, ein höheres Tier in der hiesigen Halbwelt, hatte mich engagiert, um ein Problem in einem ihm gehörenden Gebäude zu lösen. Offensichtlich ging hier ein Schatten um. Er huschte unheimlich über die Wände, griff aus dunklen Ecken nach den Leuten, flüsterte ihnen unverständliche Botschaften ins Ohr und tat auch sonst alles, um Bewohner wie Besucher in Angst und Schrecken zu versetzen. Was ihm ganz gut gelang.
Das sollte jetzt ein Ende haben, und deshalb stieg ich mit Körner und einem Mann namens Lembke, der hier Hausmeister war, die Kellertreppe in besagtem Gebäude hinab.

Unten lotste uns Lembke ein Stück den Kellergang hinunter. Es war ein außerordentlich langweiliger Keller: Rundum grauer Beton, der Boden war sauber gefegt, nirgendwo stand irgendwelches Gerümpel. Die Eisentüren an beiden Seiten waren grau gestrichen und verschlossen.
Vor einer von diesen Türen blieb Lembke stehen.
„Hier ist es. Seit diese Hexe damals ihren Zinnober abgezogen hat, war es ruhig, aber jetzt geht es anscheinend wieder los. Offenbar wirkt ihr Kram nicht mehr.“
Er zeigte auf Bänder und kleine Säckchen aus Samt in Gold und Grün, die oben am Türrahmen hingen. Über dem Schlüsselloch klebte ein schmaler Streifen Birkenrinde mit eingeritzten Zeichen, mit Holzkohle nachgezogen. Auf die Tür selbst waren mit Rhizinusöl Glyphen gemalt. Für die Augen der anderen waren sie unsichtbar, aber ich sah sie in magischem Licht leuchten, wenn auch ziemlich blass. Die Hexe hatte den Raum sorgfältig versiegelt, aber jetzt lösten sich die Zauber langsam wieder auf. Typisch Hexenmagie: Ihre Werke sind nicht für die Ewigkeit gemacht. Der Schatten kam langsam wieder frei und war anscheinend ziemlich wütend.
„Was wirst du jetzt machen?“ wollte Körner wissen. „Kannst du das Ding wieder da drinnen einsperren?“
„Das könnte ich sicher“, gab ich zurück. „Aber ich wüsste gerne, womit ich es zu tun habe, bevor ich etwas unternehme. Ich möchte mir den Raum einmal ansehen.“
Lembke zückte den Schlüssel, griff nach der Türklinke und zögerte. Er sah mich fragend an.
„Nehmen Sie das Zeug einfach ab“, sagte ich. „Es hat seine Wirkung verloren. Am besten, Sie verbrennen es später.“
Lembke entfernte den Rindenstreifen und die Bänder und stopfte sie in seine Tasche, dann schloss er auf.

Ich öffnete die Tür bis zum Anschlag. Drinnen war es stockdunkel, aber neben der Tür war ein Lichtschalter, den ich drückte. Ich hätte kein Licht gebraucht, aber mein Gegner war ein Schatten, und Schatten bekämpft man am besten bei Licht.
Was ich sah, war ein völlig leerer Raum mit Wänden, Decke und Boden aus Beton. Ich sagte den beiden, sie sollten draußen bleiben, und ging hinein.
Hier war etwas. Ich spürte in den Wänden eine Präsenz von etwas, das wütend war und gehässig und bösartig, aber diese Bosheit richtete sich gegen kein Ziel. Sie war einfach da. Ein Schatten, ohne Zweifel.
Ich versuchte noch mehr zu erkennen. Ganz sicher der Schatten eines Mannes ... plötzlicher Tod, schnell und brutal ... und es war ziemlich lange her.
Ich drehte mich um und fragte: „Ist hier mal ein Mord geschehen?“
Körner sah mich böse an, aber bevor er noch etwas sagen konnte, meinte Lembke: „Das mit dem Spuk hat schon angefangen, als das Haus noch gebaut wurde. Schon damals sind hier komische Dinge passiert, und davor stand hier so eine Art Garage, und da soll es auch nicht geheuer gewesen sein. Habe ich jedenfalls gehört.“
Gut möglich, dass er Recht hatte. Der Schatten fühlte sich tatsächlich so an, als wäre er älter als das Haus.
Wenn Menschen unerwartet sterben, wenn sie umgebracht werden und in ihrem letzten Augenblick an Rache denken oder wenn sie noch etwas zu erledigen haben, dann bleibt manchmal etwas zurück. Es hat nichts mit dem Wesen eines Menschen oder seiner Seele zu tun, denn die verschwindet nach dem Tode ins Jenseits und kehrt nie wieder zurück. Was bleibt, ist eher ein Abdruck oder eine Aufzeichnung, ein Bild ihrer letzten Gedanken. Magier nennen es einen Schatten.
Schatten können den Augenblick des Todes festhalten und immer wieder abspielen, oder sie geben eine Botschaft an jeden weiter, der mit ihnen in Berührung kommt. Am schlimmsten sind jene, die nichts als die Wut und die Angst enthalten, die ein Mensch im Augenblick seines Todes empfand. Sie halten sich am längsten und sind am unangenehmsten. Es sah so aus, als wäre der Schatten hier von dieser Art.
Ich ging langsam einmal um den Raum, an den Wänden entlang. Es musste eine Stelle geben, an die der Schatten gebunden war. Es war schwach, schwach, stärker, noch stärker, sehr stark ... wieder schwächer. Hier musste es sein. Ich sah hin, aber die Stelle sah aus wie alle anderen – Beton, noch nicht einmal gestrichen, keine Risse, keine Flecken. Ich drehte mich zur Tür, dann schnell wieder zurück. Ein Huschen im Augenwinkel, die Gestalt eines Mannes, ein Schatten. Ja, genau da war der Ausgangspunkt.
Ich überlegte. Wie ich zu Körner gesagt hatte: Ich konnte den Schatten wieder in diesem Raum einschließen. Ich konnte auch dafür sorgen, dass der Bannspruch sich selbst trug und auch nach meinem Tod nicht nachlassen würde (ich hatte zwar nicht vor, in nächster Zeit zu sterben, aber man sollte immer alle Möglichkeiten bedenken). Damit war das Problem aber nicht gelöst, denn falls irgendwann jemand die Versiegelung beschädigte, würde es wieder losgehen. Es war besser, die Sache ein für alle Mal zu erledigen.
Die Hexe hätte das auch tun können, aber Hexen sehen in einem Schatten so etwas wie eine Bandaufzeichnung oder den Brief eines Verstorbenen. Sie meinen, der Respekt vor dem Toten gebiete es, diese Botschaft in Ruhe zu lassen. Bis zu einem gewissen Punkt gebe ich ihnen Recht, aber wenn ein Schatten nur noch Wut und Bosheit enthält wie dieser hier, dann spricht nichts dagegen, ihn zu löschen.

Ich trat auf den Gang, wo die beiden auf mich warteten, und wandte mich an Körner: „Können Sie mir eine Waffe besorgen?“
Er sah mich verdutzt an. „Was für eine Waffe?“
„Ich bräuchte eine Waffe, mit der man schießen kann, und eine Patrone.“
„Und was willst du damit?“
„Das Gespenst erschießen, was sonst. Also, wie ist es?“
Er starrte mich an, entschied, dass ich wusste, was ich sagte, und griff unter das Jackett. Aha. Körner trug also wirklich eine Waffe.
Es war ein hübscher kurzläufiger Revolver. Ich bat Körner: „Entladen Sie ihn und geben Sie mir eine Patrone.“
Er tat es ohne Kommentar. Ich nahm die Patrone und wählte aus der Werkzeugsammlung in meiner Gürteltasche eine Gravurnadel. Sorgfältig gravierte ich die nötigen Zeichen in das Messing der Hülse und in die Geschossspitze: eine Glyphe der Auflösung, eine Glyphe der Macht und mein Signum. Mit dieser Patrone konnte man jetzt tatsächlich ein Gespenst erschießen. Ich bat Körner um den Revolver, und er hielt ihn mir hin.
„Kennst du dich mit Waffen aus?“
„Ich weiß, wie man abdrückt.“
Er sah aus, als wäre ihm nicht ganz wohl dabei, aber er gab mir die Waffe. Ich lud sie mit der besonderen Patrone und wollte den Raum betreten, als er mich zurückhielt. Er sagte besorgt: „Du willst doch da drinnen nicht schießen? Du wirst jede Menge Splitter abbekommen, und wenn du Pech hast, platzt dir das Trommelfell.“
Ich erklärte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, denn Splitter würde es keine geben, und der Knall konnte mir nichts anhaben. Er schien mir nicht so recht zu glauben, sagte aber nichts.

Ich ging in den Raum, stellte mich in die Mitte und richtete die Waffe auf die Stelle, wo die Gegenwart des Schattens am stärksten war. Sorgfältig baute ich ein Dreieck auf zwischen mir, dem Schatten und dem Geschoss. ‘Alle Magie entsteht aus einem Dreieck’ sagt Terentius in seinem grundlegenden Werk über die Magie. Es stimmte nicht immer, aber hier war es so.
Ich schloss alles aus, was mich ablenken konnte. Die Zuschauer vor der Tür, das Haus um mich herum, die Wände und der Boden verschwanden. Ich suchte das Herz des Schattens und verankerte den einen Knoten des Dreiecks darin. Den zweiten verband ich mit meinem eigenen Wesen; den dritten legte ich in das Geschoss.
Das war der Grund, warum ich mein Signum in die Kugel geritzt hatte: Ich wollte eine feste Verbindung zu ihr haben, denn ich würde sie auf ihrem Weg in das Herz des Schattens leiten müssen. Langsam bewegte ich meine Hand, die Fäden des Dreiecks richteten sich aus, bis die Waffe auf die richtige Stelle zielte. Ich konnte spüren, wie der Schatten sich unruhig bewegte, aber er konnte nicht fliehen – seine Existenz war an diesen Ort gebunden.
Der Schatten flatterte und versuchte sich zu befreien, aber seine Bewegungen waren matt und ziellos. Er hatte keine Persönlichkeit, seine Existenz war zufällig und ohne Sinn. Wenn es je eine Botschaft gegeben hatte, war sie schon lange erloschen.
Ich zog den Abzug durch. Ich fühlte keinen Rückstoß und ich hörte keinen Knall, denn alles, was ich wahrnahm, war das Geschoss auf seinem Weg zum Ziel. Dann traf das Projektil den Schatten. In der wirklichen Welt schlug die Kugel in die Wand, aber auf einer anderen Ebene traf die Magie der Kugel sein magisches Herz.
Die drei Punkte des Dreiecks vereinigten sich. Einen zeitlosen Augenblick lang war ich die Kugel und war ich der Schatten, und dann löschten sie sich aus. Ich war wieder ich. Gleichzeitig löste sich aus der Wand vor mir ein großer Brocken Beton. Er krachte auf den Fußboden, und Staub stieg auf.
Körner spähte durch die Tür und sagte beeindruckt: „Kreuzdonnerwetter noch mal!“
In der Wand war ein Loch. Es hatte die Größe und die Form eines Mannes, der die Arme wie zur Abwehr über den Kopf hielt. Seine Umrisse wirkten wie herausgemeißelt, eine Art negativer Skulptur. Ich hatte tatsächlich das Gespenst erschossen.

© P. Warmann