Untersuchungshaft.

Hauptsächlich eines, dachte ich, spricht gegen Untersuchungsgefängnisse: Es ist da einfach zu trocken.
Oh, und man wird eingesperrt, aber das ist ja der Sinn der Sache. Ansonsten aber, dachte ich, während sie mich durch das Gebäude führten und die Türen hinter mir verschlossen – ich zählte acht, bis sie mich dort hatten, wohin sie mich haben wollten –, ansonsten schien es hier aber ganz erträglich zu sein. Sauber, ordentlich, etwas karg, natürlich, aber in keiner Weise erschreckend. Und Türen überall, verschlossene oder zumindest verschließbare, aber mit Türen komme ich klar, genauso wie mit Wänden, Decken und Fußböden. Zumindest gab es Fenster.
Sie luden mich und meine wenigen Habseligkeiten in meiner Zelle ab, erklärten mir die Regeln, und dann gingen sie, und ich konnte meine Umgebung erkunden. Und die Leute kennen lernen, die sonst noch hier eingesperrt waren.
Erfreulicherweise verlief das ziemlich entspannt. Es gab ein paar gut gelaunte Bemerkungen über meine Haare – die wirklich sehr lang sind, besonders für einen Mann, sie reichen mir fast bis zum Gürtel – und die unvermeidliche Frage, was mich hierher gebracht hatte.
„Wir haben eine Jacht gestohlen, in einem Hafen in der Bretagne“, erklärte ich bereitwillig, „ein großartiges Boot, Holzrumpf, Deck aus Teak, die ganze Innenausstattung in Mahagoni – von dieser Art Booten gibt es nicht mehr viele. Ich habe es durch den Ärmelkanal gesegelt, dann wollte ich hoch nach Dänemark, in einen Dünenhafen ganz oben in Skagen. Da hätten wir das Boot etwas umgestaltet, äußerlich, meine ich, und danach hätte ich es mit neuen Papieren rübergebracht nach Schottland, aber der Sturm hat mich aufgehalten.
Knapp nördlich von Helgoland hat uns dann ein Boot der Küstenwache entdeckt, und die hatten offensichtlich eine Beschreibung der geklauten Jacht. Sie kamen längsseits, und was hätte ich machen können? Jedenfalls liegt die Jacht jetzt in Cuxhafen an der Kette, und ich bin hier.“

In den nächsten Tagen gewöhnte ich mich an das Leben in Haft. Mit den Leuten hatte ich keine Probleme – als Dieb, der einfach Pech gehabt hatte und erwischt worden war, war ich voll akzeptiert, und dass das gestohlene Objekt ausgerechnet eine edle Jacht gewesen war, gab mir eine Art Exotenbonus. Ich versuchte, zu allen Leuten gleichmäßig freundlich zu sein, und mischte mich nicht in die Geschäfte derer, die hier irgendwelche Geschäfte am laufen hatten, und das funktionierte: Niemand suchte Ärger mit mir.
Mit der Gefängnisorganisation hatte ich genauso wenige Probleme. Sie steckten mich in eine Art Putztrupp, aber meine Haut war schon immer empfindlich gewesen, besonders jetzt, wo ich zu selten ins Wasser kam – es gab hier nicht einmal Badewannen, nur Duschen. Daher landete ich nach zwei Tagen mit geschwollenen, rissigen und sich schuppenden Händen beim Doc, es wurde eine schwere Allergie auf Reinigungsmittel diagnostiziert, ich wurde von allen Putzarbeiten freigestellt und durfte von da an in der Küche aushelfen.
Oh, und das Essen war gar nicht schlecht, nur gab es viel zu selten Fisch.

Irgendwann Ende der ersten Woche saß ich mit ein paar Leuten, mit denen ich mich mehr oder weniger angefreundet hatte, in der Kaffeeküche und trank Tee. Das heißt, die beiden anderen tranken Tee, ich trank heißes Wasser mit einer Prise Salz – landgewachsene Kräuter haben manchmal unvorhergesehene Wirkungen auf mich.
Der eine der beiden, Hannes, war mit Abstand der älteste hier, ein erfahrener Einbrecher mit grauen Haaren und leichtem Bauch. Er hatte mit einigen anderen Leuten hochwertige Werkzeugmaschinen geklaut und sehr profitabel in den Osten verschoben, aber am Ende war die Sache aufgeflogen. Er nahm es gelassen. „Es war ein großartiges Geschäft, aber wir sind zu lange dabeigeblieben“, meinte er philosophisch. „Das kommt davon, wenn man zu gierig wird.“
Mit dem anderen, Titus (bewaffneter Raubüberfall), verband mich, dass er eine Menge vom Meer und vom Segeln verstand.
„Du bist also mit dem Boot die ganze Strecke durch den Kanal und die halbe Nordsee gesegelt?“ fragte er jetzt. „Du ganz allein?“
„Oh nein, ich hatte zwei Mann Crew.“
„Und wo sind die jetzt?“
„Die sind über Bord gegangen, als uns die Küstenwache aufgebracht hat.“
Titus sah mich erschrocken an. „Du meinst, sie sind ins Wasser gefallen und ertrunken?“
„Nein, sie sind ins Wasser gesprungen. Ich denke, sie sind nach Helgoland zurückgeschwommen, wir haben ... Leute dort, die sich um sie kümmern konnten und ihnen weitergeholfen haben.“
„Nach Helgoland zurückgeschwommen? Wie weit war das, sagtest du – sechs Seemeilen? In der Nordsee, bei Sturm, im Oktober? Das überlebt niemand – nach fünfzehn Minuten bist du unterkühlt und tot.“
„Du vielleicht, aber unsere Leute sind anders. Für jemanden aus der Familie ist das keine große Sache. Wahrscheinlich liegen sie jetzt an einem warmen Strand irgendwo und erholen sich – die Familie kümmert sich um ihre Leute.“
„’Die Familie’“, sagte Hannes nachdenklich. „Deine Familie, hm? Die scheint ja einen gewissen Ruf zu haben – seit dieser Kroate, du weißt schon, der Brandstifter, das Tattoo auf deiner Brust gesehen hat, erzählt er überall rum ‘Lasst den Jungen in Ruhe, wenn ihm etwas passiert, wird das seine Familie gar nicht freuen’.“
„Er ist Kroate, ja?“ fragte ich. „Woher stammt er?“
„Von einer kleinen Insel südlich von Split, glaube ich.“
„Adria...“, sagte ich nachdenklich. „Ja, das passt, da sollte er von uns gehört haben.“
„Was ist das eigentlich für ein Tattoo?“ fragte Hannes weiter. „Ich habe es mir noch gar nicht richtig ansehen können.“
Also tat ich ihm den Gefallen und zog mein Hemd aus. Die beiden betrachteten die Tätowierung: Geschwungene Linien in einem kreisförmigen Feld, nach oben hin stilisierte Wolken, nach unten Wellen – besondere Wellen –, vor den Linien eine Windrose, und zwischen den Wellen ein Segel, weiß ausgespart als Silhouette, und in den Wolken eine Möwe auf die gleiche Weise.
„Ist das ein Abzeichen?“ fragte Titus.
„Eine Art Familienwappen, an dem man uns erkennt“, bestätigte ich, und dachte, dass es für jemanden aus den Familien noch mehr wäre: Er würde an der Windrose erkennen, woher ich stamme, und aus dem Segel und den Wellen könnte er meine Herkunftslinie ablesen, und er würde sich vermutlich über die Möwe wundern.
„Und eure Familie, gibt es die weltweit?“ fragte Titus weiter.
„Nein, es gibt Familien – zu meiner gehören Ostatlantik und Mittelmeer, also die europäischen Atlantikküsten und dazu einmal rund um das Mittelmeer und die Westküste Afrikas. Es gibt noch mehr Familien, eine im westlichen Nordatlantik – USA und Kanada –, dann eine in Karibik und Südatlantik, und vier im Pazifik. Alle kennen sich und arbeiten zusammen, aber sie sind selbständig, es gibt keinen allgemeinen Anführer.“
„Und alle sind kriminell“, sagte Titus leise.
„Kriminell ist nicht das richtige Wort, ich würde gesetzlos sagen. Wir erkennen die Gesetze der Landmenschen nicht an, wir leben nach unseren eigenen. Sieh mal, nach euren Gesetzen war die Jacht gestohlen, aber nach unseren war sie das Pfand für eine alte Schuld, und das ist jetzt verfallen. Wir haben uns nur geholt, was uns zustand.“
„Das wird der Richter aber anders sehen“, sagte Hannes.
Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn es denn jemals zu einer Verhandlung kommt. Ich denke nicht, denn die Familie wird mich vorher hier rausholen.“
„Da hast du aber viel Vertrauen zu deinen Leuten“, meinte Hannes leicht skeptisch. „Übrigens, ich habe gehört, dein Name ist nicht dein Name.“
„Dass ich mit einer falschen Identität unterwegs bin? Das stimmt“, bestätigte ich. „Aber meine Leute wissen, wo ich bin, und sie arbeiten daran, mich hier rausbringen.“ Ich sah aus dem Fenster, in einen Himmel mit schnell ziehenden Wolken, die den nächsten Sturm ankündigten, und zu den Möwen, die hoch oben ihre Kreise zogen. Ich vermisste das Meer.

Am nächsten Tag kam die Polizei mich besuchen und hatte die gleichen Fragen: „Wer sind Sie? Ihre Papiere sind gefälscht – wie ist Ihr richtiger Name? Sind Sie überhaupt Bürger der Bundesrepublik Deutschland? Wohin wollten Sie die Jacht bringen? Wer war noch an dem Diebstahl beteiligt? Wer hatte ihn in Auftrag gegeben?“ Antworten bekamen sie nicht.
Dann wollten sie noch eine DNA-Probe von mir. „Wir wissen nicht, wie es Ihnen gelungen ist, auch die zweite Probe zu kontaminieren, aber die dritte werden wir jetzt unter genau kontrollierten Bedingungen nehmen“, sagten sie, und das taten sie dann auch, aber sie würde wieder ‘kontaminiert’ sein – oder zumindest nicht das, was sie erwarteten.

Noch später – ich war jetzt einen ganzen Monat hier – kam ein Neuer. Natürlich kamen ständig Neue, und andere gingen, aber bis jetzt hatte das nichts zu bedeuten gehabt. Dieser Neue war anders. Wir begegneten uns auf dem Gang, und wir wussten sofort, was der jeweils andere war. Es gefiel mir gar nicht.

Kurz darauf kam in der Kaffeeküche das Gespräch auf ihn. Titus wusste etwas. „Angeblich gehört er zu so einem Satanisten-Orden und praktiziert schwarze Magie. Sagt, er kann dir einen Fluch anhängen oder mit Gedankenkraft eine Bahn zum entgleisen bringen, aber diese Typen erzählen sowas dauernd, und am Ende ist es nur heiße Luft. Jedenfalls ist er hier, weil er jemanden umgebracht hat – erstochen –, einen Kumpel von sich aus dem Orden.“
„Oh, klasse“, sagte Hannes, „wenn er das mit einem Ordenskollegen macht, was macht er dann mit seinen Feinden?“
„Die lege ich auf den Grill“, sagte eine samtweiche Stimme hinter Hannes, der nicht bemerkt hatte, dass unser Neuzugang hinter ihm durch die Tür getreten war, „und dann röste ich sie ganz langsam, wie einen großen Fisch.“ Hannes wurde blass, aber der Typ hatte das nicht zu ihm gesagt, und sein Blick und sein Lächeln galten mir.

Später fing er mich auf dem Gang ab. „Ich weiß, was du bist“, sagte er.
„Das mag sein, aber was willst du machen?“ fragte ich. „Wenn du es rumerzählst, schadest du nicht mir. Es wird dir schlicht keiner glauben, und sie werden dich noch mehr für einen Spinner halten.“
Er lächelte ein schmales Lächeln. „Was ich nicht bin, wie du weißt.“
„Ja, ich weiß, du bist echt“, sagte ich, aber ich war trotzdem nicht beeindruckt. Er mochte ein echter Magier sein, aber er war mir einfach unsympathisch. Er war sehr schlank, blass, trug von Kopf bis Fuß schwarz, aber von der eher schäbigen Sorte, und sein langes, strähniges Haar sah aus, als wäre eine Portion Tang auf seinem Kopf notgelandet. Außerdem trug er ein überhebliches Lächeln mit sich herum und einen Gesichtsausdruck, als wären wir anderen nur kriechendes Gewürm.
„Und?“ fragte ich. „Was willst du von mir?“
„Dein Blut“, hauchte er Unheil verkündend, aber auch das beeindruckte mich nicht.
„Ach ja? Und warum sollte ich es dir geben?“
„Zu unser beider Vorteil. Ich habe nicht vor, hier lange zu bleiben. Ich werde gehen, und zwar hierdurch.“ Er zog etwas aus der Tasche, das sich als ein vielfach gefalteter sehr dünner Bogen Papier entpuppte. Als er es auffaltete, sah ich das magische Diagramm darauf.
„Ein Tor“, sagte ich nachdenklich.
„Ganz richtig, ein Tor durch die Anderswelt. Ich habe hier die vollständige Anleitung, wie ich es öffnen kann, und es wird mich an einen Ort weit weg von hier führen, aber es wird nicht leicht sein, es lange genug offen zu halten. Ich muss mir dazu Kraft borgen, und unter normalen Umständen hätte ich ein Menschenopfer darbringen müssen, aber mit einer Portion von deinem Blut wird es auch gehen, sogar besser.“
„Gut und schön, aber warum sollte ich dir helfen?“
„Weil du hier gestrandet bist wie ein Fisch auf dem Trockenen.“ Er lächelte wieder sein unangenehmes Lächeln. „Übrigens gefällt mir der Vergleich. Du magst ja überall rumerzählen, dass deine Leute dich hier rausholen werden, früher oder später, aber ich glaube, ‘später’ heißt hier ‘etwas später als nie’. Die lassen dich hier versauern. Du hast sie ein teures Schiff gekostet, und ich glaube auch nicht, dass du persönlich ihnen besonders viel wert bist, oder, Halbblut?“
Damit ging er. Ich sah ihm nach und unterdrückte ein Lächeln. Die Geschichten, die man über uns erzählt und über unsere Beziehungen zu den Landmenschen und die Kinder, die daraus entstehen, stimmen nicht ganz. Ja, ich war aus einer Linie der Familie, in der das Blut der Landleute stark ist, aber unter uns heißt das der goldene Strang. Das alte Blut ist mächtig, aber wir sind wenige, und es gibt uns schon sehr lange. Wenn der goldene Strang jemals reißen sollte, werden böse Dinge mit unseren Nachkommen geschehen. Manchmal geschieht das schon jetzt.
Meine Familie würde sich um mich kümmern. Aber trotzdem fand ich sein Angebot bedenkenswert. Offensichtlich gab es tatsächlich Probleme dabei, mich hier herauszuholen, dachte ich, denn sonst wäre ich schon nicht mehr hier. Warum also nicht den Weg durch sein Tor nehmen und meinen Leuten damit viel Ärger und Aufregung ersparen? Ich beschloss, sein Angebot anzunehmen.

Also teilte ich ihm das mit, und wir besprachen die Einzelheiten.
„Wann willst du es machen?“ fragte ich.
„Am Sonntag. Am Sonntag, wenn das Länderspiel übertragen wird. Alle werden vor dem Fernseher sitzen, nur wir beide schleichen uns in die Kaffeeküche. Ich brauche etwa zwanzig Minuten, also werden wir verschwunden sein, bevor die erste Halbzeit um ist.“
„Wohin führt dein Tunnel eigentlich?“
„Ganz weit weg: nach Südafrika.“ Er lächelte wieder. „Der Orden hat Freunde dort. Das ist meine Belohnung – ich habe diesen Mord im Auftrag der Ordensoberen begangen und ihn auf mich genommen, um von ihnen abzulenken. Dafür haben sie alles für meine Flucht vorbereitet, und am anderen Ende werde ich erwartet. Dort werde ich erhalten, was mir zusteht.“

Als der Sonntag kam, redeten alle vom Fußball, und von noch etwas anderem: vom Sturm. Ein Orkan näherte sich von Westen über den Atlantik, und er sollte am späten Nachmittag eintreffen, genau dann, wenn das Spiel beginnen würde. Das allerdings, bekam ich mit, fand in München statt und wäre nicht gefährdet.
Ich war den ganzen Tag über nervös, und ich wurde noch nervöser nach dem, was beim Mittagessen geschah. Ich saß bei Hannes und Titus, und der Wind, der schon jetzt stark war, trieb Regenschauer gegen das Fenster. Dann erschien ein weißer Schatten vor dem Fenster, eine Möwe, eine große, und sie schrie. Es war ein langer Schrei, und er ließ alle aufblicken, und als er verklang, schüttelten sie die Köpfe und begannen langsam wieder zu essen.
„Das war eine von den großen Hochseemöwen, die kommen sonst nie so weit ins Land“, sagte Titus.
„Wahrscheinlich der Sturm“, vermutete Hannes.
Ja, dachte ich, der Sturm – und noch etwas. Ich hatte die Botschaft verstanden, die sie gebracht hatte, und sie war für mich bestimmt gewesen.

Trotzdem entschied ich mich, den Weg durch das magische Tor zu nehmen. Daher erschien ich zur verabredeten Zeit in der tatsächlich verlassenen Kaffeeküche, mit den wenigen Habseligkeiten, die ich mitnehmen wollte, in einer Gürteltasche. Mein Mitstreiter war schon dabei, den Kreis, der das Tor öffnen sollte, mit Kohlestift auf die Wand zu zeichnen. Als er damit fertig war, ritzte ich mir den Daumen an, und er benutzte mein Blut, um die wichtigen Zeichen nachzuziehen. Dann stellte er sich vor den Kreis, hob die Hände und begann halblaut eine lange, monotone Anrufung vorzutragen.
Ich hörte zu – er schien immer und immer wieder dieselben Formeln zu wiederholen. Im Kreis tat sich noch nichts. Er sah aus, wie sie alle aussehen: ein Doppelkreis, erfundene Namen für nicht existierende Dämonen, eine Menge sinnloser Schnörkel. Dazwischen, in dem ganzen Gekrakel verborgen, die wirklich wichtigen Zeichen. Ich erkannte die Öffnungsrune, und irgendwo musste auch das Signum sein, das das Ziel angab.
Aber irgend etwas passte nicht. Da war etwas, das dort nicht hingehörte, etwas, das ich kannte, oder zumindest kennen sollte, aber was? Ich kam nicht darauf, aber es verband sich mit einer Erinnerung. „Swakopmund“, sagte ich laut.
Das trug mir einen scharfen Blick ein, weil ich dazwischengequatscht hatte, aber er setzte in seiner Anrufung nicht aus.
Swakopmund, dachte ich. Eine kleine Hafenstadt in Namibia. Ich war dort gewesen, mit meiner Mutter, vor Jahren, ich war damals dreizehn. Wir beide waren die Tarnung gewesen, unser Schiff lag vor der Küste, es ging um Diamanten, Diamanten aus dem Meer, die die Flüsse aus den Lagerstätten weit im Binnenland hierher gespült hatten, Jahrtausende lang. Es war zu aufwändig, sie mit der Technik der Landbewohner zu fördern, aber wir konnten sie einfach vom Meeresgrund aufsammeln. Das war natürlich illegal, daher waren meine Mutter und ich die Tarnung, wir bewegten uns an Land und taten harmlose Dinge, besuchten Museen und unternahmen Ausflüge in die Nationalparks und die Wüste.
Warum fiel mir das jetzt wieder ein? Ich erinnerte mich an die Namib, diese alte, alte Wüste, sogar die Dünen waren hier tot. Diamanten und die Wüste ... aber das war es nicht. Es hatte etwas mit Bildern zu tun ... genau, das war es: Bilder. In Swakopmund hatte es eine Ausstellung von Buschmannkunst gegeben, Kopien von Felsbildern, die ältesten waren dreißigtausend Jahre alt, hieß es. Und dort hatte ich etwas gesehen, ein Symbol, das immer wieder auftauchte, und dieses Symbol war in dem Kreis, hier, und es gehörte nicht dorthin.
Ich sprang auf, und in dem gleichen Augenblick brach die Anrufung ab. Er stand dort, die Arme triumphierend ausgebreitet, und blickte auf den Kreis, der jetzt ein Tor war, das sich öffnete, nicht wie Türflügel, sondern wie ein Vorhang. Er drehte sich zu mir um, mit einem breiten Grinsen, und machte den ersten Schritt über die Schwelle, und in diesem Augenblick begriff ich.
„Mantis!“ schrie ich. „Nein! Das ist kein Tor, das ist eine...“, aber das Wort ‘Falle’ brachte ich nicht mehr heraus.
Etwas schlug zu. Es hatte dort drüben gewartet, an diesem Ort, zu dem das Tor führte, und jetzt zuckten seine Fangarme vor, besetzt mit grausamen Dornen, und packten ihn. Er schrie. Ich sah, wie es ihn zu sich heranzog, und wie sich die Kiefer um seinen Hals schlossen, und dann sah ich weg, aber ich hörte das Geräusch, wie das Klacken einer Heckenschere, und der Schrei brach ab. Ich sah wieder hin, obwohl ich es nicht wollte, und da stand sie, Mantis, die Gottesanbeterin.
An manchen Stellen ist die Wand zwischen den Welten dünn, und Wesen aus der Anderswelt können hier, auf unserer Seite, erscheinen. In den Herzen großer Stürme ist es der Donnervogel, in den Tiefen des Meeres der Leviathan, und in der Namib, dieser alten Wüste, Mantis, die große Gottesanbeterin. Die Buschmänner kennen sie, und sie haben sie schon immer in ihren Bildern dargestellt.
Jetzt lernte ich sie kennen, und ich hätte wirklich gerne darauf verzichtet. Sie wandte ihren dreieckigen Kopf mir zu und richtete den Blick aus kalten Insektenaugen auf mich. Dann ließ sie den kopflosen Leichnam aus ihren Armen achtlos auf den Boden sinken, denn ich war die saftigere Beute. Sie gab ein klapperndes Rascheln von sich, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellten, und machte einen Schritt auf mich zu.
Ich wäre jetzt gerne aus der Kaffeeküche gerannt und schreiend den Gang hinunter gestürzt, in die Sicherheit des Fernsehzimmers oder irgendwohin, aber sie war zwischen mir und der Tür. Ich stand neben dem Fenster, das auch kein Ausweg war mit seinem Gitter. Eine Böe warf sich gegen die Scheibe, der Sturm war jetzt über uns ... der Sturm. In meinem Herzen wurde es klar und kühl. Da draußen war der Sturm, und er war meinetwegen gekommen, das war die Botschaft gewesen, die die Möwe mir gebracht hatte. Ich drehte mich um und riss das Fenster auf, dann schickte ich einen Schrei in den Sturm, eine Bitte um Hilfe und Zuflucht.
Und sie kamen. Es gibt mehr als ein altes Volk auf der Welt, und ich bin ein Mischblut auf mehr als eine Weise – ich trage nicht umsonst die Möwe in meinem Wappen. Sie stürzten herein, Sturmreiter, sie rissen das Fenster aus seinem Rahmen und das Gitter aus der Verankerung, und sie stürzten sich auf die Mantis. Die floh, in die Sicherheit hinter dem Tor, in ihre Welt, und sie schlug das Tor hinter sich zu. Ihre Beute nahm sie mit.
Mich packten ein Dutzend Hände, rissen mich in die Luft, durch das Loch, wo das Fenster gewesen war, und hoch hinauf in die Wolken. Es war großartig, meine Haare flogen, und ich ritt auf dem Sturm.
Sie führten mich durch den wirbelnden Orkan hindurch, nach Westen, zum Meer. Während ich den wilden Ritt genoss und dann und wann tief unter mir die Lichter in den Häusern der Menschen aufblitzen sah, dachte ich an die Oberen des Satanisten-Ordens. Sie hatten sich ein karrieregeiles Jungmitglied gesucht, auf das sie verzichten konnten, ihn einen Mord begehen lassen und ihn dann in die Wüste geschickt, direkt in die Fänge der Mantis. Oh ja, er wurde ‘am anderen Ende erwartet’ und hatte dort ‘bekommen, was ihm zustand’.

Schließlich hatten wir das Ende des Sturmes erreicht. Die Sturmreiter führten mich tiefer, und ich sah das Wasser des Flusses dicht unter mir schimmern. Sie lachten und riefen und verabschiedeten sich, und dann ließen sie mich los. Platsch! Ich tauchte tief ein, endlich, endlich wieder Wasser um mich herum. Wie hatte ich das vermisst, endlose Wochen lang! Ich nahm meine Wassergestalt an, streifte die Kleidung ab und behielt nur den Beutel – den wasserdichten Beutel – an meinem Gürtel. Dann schwamm ich los.
Hier schwamm ich im Fluss, aber das Meer war nahe, ich konnte sein Salz fühlen. In der Flussmündung wurde ich erwartet. Plötzlich waren sie da und schwammen um mich herum, unsere Verbündeten und Freunde und in gewissem Sinne unsere Verwandten und die Warnung, was aus uns werden würde, wenn der goldene Strang einmal reißen sollte. In gewissem Sinne sind sie das Gegenstück zu uns. Wir sind Menschen an Land und etwas anderes im Wasser, und sie sind im Wasser fast menschlich und etwas anderes an Land. Wenn sie auf den Sandbänken lagen, um sich zu sonnen, waren sie von den echten Robben um sie herum nicht zu unterscheiden, aber unter Wasser zeigten sie sich mir in ihrer wahren Gestalt.
Wir schwammen zusammen auf das Meer hinaus und dann nach Norden. Sie halfen mir, denn im Gegensatz zu einem reinblütigen Nöck oder Nix oder Wassermann – obwohl letzteres eher der Name für unsere Vettern im Binnenland ist – kann ich nicht unbeschränkt tauchen. Ich muss an die Oberfläche kommen und atmen wie ein Mensch, und in diesem Orkan, der das Wasser aufwühlte, war das gefährlich. Sie hielten und schützten mich, wenn ich auftauchen musste, und sie grffen mir unter die Arme und zogen mich, wenn wir schwammen. Ich schwimme so gewandt und so schnell wie meine reinblütigen Verwandten, aber ich bin nicht so ausdauernd, und ich war ziemlich aus der Form von den langen Wochen auf dem Trockenen.
Aber mit ihrer Hilfe kam ich weit vor Mitternacht auf der Leeseite von Sylt an, der Insel, wo mein Zweig der Familie seinen Stammsitz hat, und das schon länger, als Sylt überhaupt eine Insel ist. Am Strand empfingen mich die Diener der Familie, und als ich ausgekühlt und müde aus dem Wasser stieg, wickelten sie mich in Decken und brachten mich in unser Haus. Dort erwarteten mich trockene Kleidung, ein knisterndes Feuer im Kamin und ein Teller voll heißer Muschelsuppe. Ich war endlich wieder daheim.

© P. Warmann