Igor.

Mein Freund Igor ist bei der russischen Mafia. Das heißt, im Augenblick ist er nur halbtags und auf Probe dabei, aber er ist sich sicher, dass er im Sommer fest übernommen wird. Bis dahin macht er noch einen Nebenjob als Helfer für einen Professor (Arzt, glaube ich). Igor meint, seine Arbeit bei der Mafia sei ziemlich hirnlos und die andere Sache ein guter Ausgleich.

Igor ist ein äußerst freundlicher Mensch und immer bereit, seinen Freunden zu helfen. Wie mir, als ich im letzten Monat feststellte, dass meine Stromrechnung über 300 Euro betrug. Schnell fand ich heraus, dass mein Vermieter den gesamten Hausstrom über meinen Zähler laufen lässt, nicht nur das Treppenhauslicht und die Waschmaschine, sondern auch die sechs 1000-Watt-Scheinwerfer, die die ganze Nacht das Haus und den Hof beleuchten, und die Aggregate für den Kühlraum im Keller. Als ich ihn darauf ansprach, erklärte er mir, ich sollte mich mit Beschwerden besser zurückhalten, sonst würde es mir ergehen wie meinem Vormieter. Den Kunden hätte die Wurst geschmeckt... Da mein Vermieter eine Schlachterei hat und die Wohnung überraschend frei wurde, weil mein Vormieter spurlos verschwand, gab mir die Sache zu denken.

So bat ich Igor um Hilfe. Würde er mitkommen, als moralische Unterstützung, um mit meinem Vermieter zu reden? „Kein Problem“, meinte er, „wir gehen reden. Ich hole nur schnell Kalaschnikow.“
Er schnappte sich den feuerroten Gitarrenkoffer, in dem er seine Kalaschnikow transportiert. Früher hatte er einen schwarzen Koffer dafür, aber der Koffer für den E-Bass, den er am Wochenende in einer Band spielt, ist ebenfalls schwarz, und das hatte schon zu peinlichen Verwechslungen geführt. Mit der Gitarre bei der Arbeit zu erscheinen war nicht das ganz große Problem, er konnte die anstehende Aufgabe mit Hilfe einer Ersatzsaite aus dem Koffer elegant lösen. Ohne Bass bei den Proben aufzutauchen war da erheblich unangenehmer.
Jedenfalls, wir gingen zu meinem Vermieter, und er erwies sich als außerordentlich umgänglich. Er war sofort bereit, alles nach meinen Wünschen zu regeln, und bot sogar von sich aus an Schadensersatz zu leisten. Ich war angenehm überrascht.
Hinterher bedankte ich mich herzlich bei Igor, der meinte, er hätte doch gar nichts dazu beigetragen. Das stimmte in gewisser Weise: Er hatte den Gitarrenkoffer nicht einmal öffnen müssen. Trotzdem schiebe ich die entgegenkommende Haltung meines Vermieters auf Igors Gegenwart – ob es nun seine starke Persönlichkeit war oder die Art, wie er sich mit der ausfahrbaren Klinge seines handgefertigten Messing-Schlagrings die Fingernägel säuberte. Es ist wirklich ein großer Gewinn, Igor zum Freund zu haben.

© P. Warmann