Zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist die Theorie des Rückwärtslebens.
Sie wurde von dem estnischen Philosophen Th. Mossakowski entwickelt (nicht
zu verwechseln mit jenem Th. Mossakowski, der die drei Arten der Unmöglichkeit
beschrieb und Urheber des berühmten Hammer-Theorems ist [Unmöglich
gibt es nicht dann nimmt man eben einen größeren Hammer]).
Die Theorie lässt sich so zusammenfassen: Das Leben jedes Menschen
beginnt mit seinem Tod. Im Augenblick seines Auftauchens weiß er
bereits alles, was er je erlebt hat; von diesem Zeitpunkt
aus lebt er rückwärts. Im nächsten Augenblick ist er etwas
jünger und hat den spätesten Teil seiner Erlebnisse
vergessen. So geht es rückwärts weiter, wobei er Stück
für Stück alle seine Erfahrungen entlernt (der Ausdruck
stammt von Mossakowski), bis er schließlich im Augenblick seiner
Geburt aufhört zu existieren.
Den Anstoß zur Entwicklung dieser Theorie erhielt M. bereits 1924,
als er eine Freundin seiner späteren Frau sagen hörte: Das
werde ich niemals tun, und wenn ich es doch täte, so wäre es
doch, als hätte ich es nie getan. (Die deutsche Übersetzung
gibt den Sinn des Satzes nur unvollkommen wieder. Um zu verstehen, welchen
Einfluss er auf M. hatte, muss man das estnische Original kennen.)
M.s Theorie wurde 1936 in Tallin veröffentlicht, wurde aber nicht
so bekannt, wie sie es verdient hätte. 1949 wurde eine erweiterte
russische Fassung der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion vorgelegt.
Das Beurteilungskommitee der Akademie schlug den Verfasser für eine
besondere Belobigung vor mit der Begründung Die Theorie ist
eine wichtige Stütze des dialektischen Materialismus, da sie schlüssig
beweist, dass der Kommunismus schon immer existiert hat. Diese Empfehlung
wurde J. Stalin (unverwechselbar) vorgelegt, der statt dessen erklärte
Die Theorie ist als konterrevolutionär und revanchistisch abzulehnen,
da in ihr nirgendwo J. Stalin erwähnt wird und die sofortige
Hinrichtung von M. und drei Mitgliedern des Beurteilungskommitees anordnete.
© P. Warmann