Der Stein.

Es begann damit, dass mir ein Schnürsenkel aufging. Also blieb ich stehen, um mir den Schuh zu binden, und zufällig stand ich neben einem großen Steinhaufen. Es waren große, abgerundete Steinbrocken, die darauf warteten zu einer Feldsteinmauer verarbeitet zu werden. Ich bückte mich also und band meinen Schuh, als eine Stimme leise sagte: „Bitte, kannst du mir helfen?“ Es war der zweitoberste Stein, der gesprochen hatte.
Die Stimme war in meinem Kopf erklungen, nicht in meinen Ohren, und ich wusste, dass es der Stein gewesen war, der gesprochen hatte. Ich starrte ihn an, und er sagte mit tiefem Entsetzen in der Stimme: „Die wollen mich einmauern!“ Es klang, als wenn er schauderte, aber er bewegte sich nicht.
„Und was soll ich dabei machen?“ fragte ich, laut, nicht in Gedanken.
„Bringe mich weg von hier, bitte.“
Er klang so verzweifelt, dass ich mich kurz umsah, und als niemand auf mich achtete, griff ich nach dem Stein und klemmte ihn mir unter den Arm. Er war ziemlich groß, etwa dreißig Zentimeter im Durchmesser und etwas weniger in der Höhe. Rötlicher Granit, vom Wasser rundgewaschen und ganz schön schwer.
Während ich mit dem Stein unter dem Arm dahinging, fragte ich: „Wohin soll ich dich bringen?“
„Das ist egal, nur in Sicherheit.“
„Hm. Gar nicht so leicht. Sieh dich um: Wir sind hier mitten in der Stadt, und wenn ich dich einfach auf der Straße ablege, macht noch jemand das Fundament für einen Torpfosten aus dir.“
Er gab ein entsetztes Knirschen von sich.
„Tut mir leid“, sagte ich. „Aber wo soll ich dich lassen? Ich wohne in einer Einzimmerwohnung mit Kochnische und habe noch nicht einmal einen Balkon. Ach was, ich nehme dich trotzdem erst einmal mit zu mir.“
Wir gingen weiter, bis mir ein Gedanke kam. „Warum ist es so schlimm für dich, in einer Mauer zu enden? Es müsste dir doch ziemlich egal sein, wo du liegst.“
„Ich sollte nicht liegen“, sagte er ernst. „Ich sollte fliegen.“
„Fliegende Steine? Davon habe ich noch nie gehört.“ Von sprechenden Steinen allerdings auch nicht, fiel mir ein.
„Wir können alle fliegen. Die meisten von uns machen es nur nicht“, erklärte er zögernd, „weil sie an etwas glauben, das es ihnen verbietet.“
„Warum bist du dann nicht einfach weggeflogen?“
„Ich kann nicht. Das heißt, ich konnte es, und ich könnte es auch jetzt noch, aber ich weiß nicht mehr, wie man es macht. Ich war zu lange unter der Erde. Wir vergessen dann sehr schnell.“

In meiner Bude angekommen legte ich ihn auf den Tisch. „Du bist also ein fliegender Stein, der nicht mehr fliegen kann“, stellte ich fest.
„Es wird mir wieder einfallen“, sagte er überzeugt.
„Und dann schwirrst du mir einer Tages durch das Zimmer?“
„Wir fliegen nur unter den Sternen.“
„Also draußen? Hm. Ich habe nicht einmal einen Balkon.“ Ich sah mich um, und mir kam eine Idee. „Wie wäre es, wenn ich dich außen auf das Fensterbrett legte?“
„Gute Idee“, stimmte er erfreut zu. Also öffnete ich das Fenster und packte ihn sorgfältig dorthin.

In den nächsten Tagen war das Wetter schön, und ich setzte mich nachmittags oft in das offene Fenster, um zu lesen. Er wechselte dann immer ein paar Worte mit mir.
„Es gefällt mir hier“, sagte er. „Gemütlich hart.“
„Hart ist also für euch gemütlich?“
„Weich bedeutet untersinken, und das macht traurig“, erklärte er. Es klang irgendwie sinnvoll.
Ein paar Tage später sagte er verträumt: „Ich bin geflogen und geflogen. Dann bin ich gelandet, in einem Steingarten. Da waren Freunde, und wir hatten viel Spaß. Aber irgendwann sind wir unter die Erde geraten...“
Ich wagte nicht, ihn nach dem Schicksal seiner Freunde zu fragen.

Noch ein paar Tage später schlief ich und träumte, dass ich wach wurde, weil es auf meiner Fensterbank rappelte. Im Traum ging ich zum Fenster, und da hüpfte der Stein ganz aufgeregt auf und ab. „Ich kann es wieder, ich kann es wieder! Sieh nur, ich fliege!“ Tatsächlich, er schwebte einige Zentimeter über der Fensterbank.
„Wie schön für dich“, gratulierte ich ihm.
„Ich fliege jetzt. Komm doch mit!“
„Ich? Menschen können nun wirklich nicht fliegen.“
„Bist du sicher, oder ist es nur so, dass ihr es nicht wisst?“
Gute Frage. Und überhaupt, dies war ein Traum. Im Traum ist alles möglich. Also kletterte ich zu ihm nach draußen, und gemeinsam hoben wir ab und stiegen über die Dächer auf.

Wir trieben dahin, fröhlich und schwerelos, bis ich irgendwann unvorsichtig wurde und mit dem Knie gegen einen Schornstein knallte. Es tat höllisch weh. Das war der Augenblick, in dem mir aufging, dass ich gar nicht träumte. Ich war wach, und ich flog.
Im ersten Moment wäre ich fast abgestürzt, aber dann dachte ich: Ich fliege, ich kann fliegen, und ich weiß, dass ich es kann. Also fliege ich einfach weiter.

Seitdem holt mich der Stein immer mal wieder ab, und wir machen unsere Ausflüge durch die Nacht. Menschen habe ich dabei noch nicht getroffen, aber eine ganze Menge Steine. Und – aber Sie würden mir nie glauben, wer noch dort in der Luft unterwegs ist und worüber wir miteinander reden.

© P. Warmann