Der Dieb der Zeit.

Ich bin ein Dieb. Allerdings kein gewöhnlicher Dieb. Ich stehle keine Dinge – ich bin ein Spezialist und ein Künstler. Es gibt nicht viele von uns.
In jener Nacht durchstreife ich die Villa eines reichen Mannes, um dort zwei verschiedene Aufträge für zwei verschiedene Klienten zu erledigen. Zuerst sehe ich mich im unteren Stockwerk um, obwohl ich weiß, dass die Objekte, um die es geht, oben zu finden sind. Ich lasse mir Zeit, sehe in Schubladen und öffne Schränke, wobei ich darauf achte, hier mit etwas zu klappern und dort anzustoßen. Es ist wichtig, dass ich nicht unbemerkt bleibe.
Nichts Interessantes ist zu finden, bis ich auf das Familiensilber stoße: Bestecke, Platten und ein Kaffeeservice, blankgeputzt und liebevoll gepflegt. Dafür gibt es immer einen Abnehmer. So greife ich zu und stehle dem Silber seinen Glanz.
Nach noch etwas verstohlenem Geklapper und Gepolter steige ich die Treppe hinauf, zum ersten meiner Ziele und hoffentlich auch dem zweiten. Das erste finde ich dort, wo es meinen Plänen nach sein sollte: In einem kleinen Arbeitszimmer hängt jenes Bild von Cézanne, das mein Auftraggeber haben will. Vorsichtig, vorsichtig mache ich mich daran es zu stehlen.

Ich habe dies gerade erledigt, als eine Stimme in meinem Rücken sagt: „Hände hoch und keine falsche Bewegung!“
Langsam drehe ich mich um. Dort steht der Hausherr in Schlafanzug und Morgenmantel und hält einen etwas altmodischen, aber durchaus einschüchternden Revolver auf mich gerichtet. So ist er also wach geworden und hat mich entdeckt. Sehr gut. Ziel Nummer zwei ist in Reichweite, und ich greife zu und stehle es, ohne einen Finger rühren zu müssen.
„Was machen Sie hier?“ herrscht er mich an.
„Ich bin ein Dieb“, erkläre ich. „Unter anderem habe ich soeben dieses Bild gestohlen.“ Ich deute mit dem Kopf in dessen Richtung.
„Was soll das heißen? Wieso gestohlen? Da hängt es doch noch!“
„Dann sehen Sie den Unterschied nicht? Nein, was dort hängt, ist nur noch Farbe auf Leinwand. Das Bild selbst, das wirkliche, eigentliche Bild, habe ich.
Und außerdem stehle ich Ihre Nachtruhe, und nicht nur die dieser Nacht, möchte ich annehmen. Der Abnehmer dafür erwartet sie schon sehnlich.“
„Was? Wie?“ Er wirkt mehr als nur etwas verwirrt. „Ach was, Sie stehlen mir meine Zeit.“
„Bis jetzt zwei Minuten und dreiundvierzig Sekunden“, bestätige ich, „und es wird noch mehr werden. Aber das ist heutzutage nicht einmal mehr Kleingeld. Vor fünfzig, fünfundfünfzig Jahren hätte man sie mir aus den Händen gerissen, aber seit Erfindung des Fernsehens? Keine Chance. Ich kann sie nur noch für mich selbst verbrauchen.“
„Was? Fernsehen? Was soll das?“
„Was glauben Sie denn, wie die Fernsehsender sich finanzieren? Rundfunkgebühren? Lächerlich. Werbeeinnahmen? Ach was. Warum denn wohl waren und sind die Kernsendungen Talkshows, Quizsendungen – und Volksmusik, nicht zu vergessen? Rechnen Sie mal aus, wie viel gestohlene Zeit bei ein paar Millionen Zusehern in anderthalb Stunden zusammenkommt. Wenn man die dann an die richtigen Leute verkauft... Es gibt Menschen, die den Preis dafür zahlen können. Niemand hat je genug Zeit.“
„Ach was! Versuchen Sie mich nicht mit diesem Unsinn abzulenken. Wie sind Sie überhaupt ins Haus gekommen?“
„Durch ein Fenster“, erkläre ich bereitwillig.
„Durch ein Fenster? Aber alle meine Fenster sind durch Alarmanlagen gesichert!“
„Nicht durch eines Ihrer Fenster. Durch mein Fenster.“
„Blödsinn. Wie soll denn Ihr Fenster in mein Haus führen?“
„Es ist ein Fenster zwischen einem Augenblick und dem nächsten. Ich öffne es, zwänge mich hindurch und bin einen Augenblick später dort, wo dieser Augenblick ist.“
„Jetzt habe ich aber genug! Mir ist egal, was Sie für ein Spinner sind, Sie sind in mein Haus eingebrochen, und ich rufe jetzt die Polizei.“
Er geht seitlich, die Waffe immer noch auf mich gerichtet, zum Schreibtisch und greift nach dem Telefon.
„Ich bin kein Einbrecher“, stelle ich richtig, „ich bin ein Dieb. Und weil ich ein Dieb bin, stehle ich mich jetzt fort.“
Das tue ich: Ich stehle mich, und dann stehle ich mich davon, und entkomme so mit meiner Beute.

© P. Warmann