Die Beschwörung.

Ich schrieb an einer Semesterarbeit über Praxis und Theorie der Dämonenbeschwörung und suchte nach einer Gelegenheit, ein entsprechendes Ritual einmal tatsächlich mitzuerleben. Theoretisch hatte ich mich gut vorbereitet, aber mir fehlte die praktische Erfahrung. Schließlich fand ich einen jungen Mann, der bereit war, mich als Beobachter teilnehmen zu lassen.
Ich holte ihn in jener Nacht ab, und wir fuhren in meinem Wagen bis zum Stadtwald, wo wir ihn vor dem Gasthaus ‘Waldschlösschen’ abstellten. Wir gingen tiefer in den dunklen Wald hinein bis zu einer Wegekreuzung. Dort streifte mein Begleiter seine mit mystischen Glyphen bestickte Robe über und zückte sein Ritualschwert. Dann kramte er ein Stück Papier hervor, knipste eine Taschenlampe an und begann mit dem Schwert einen Zauberkreis in den Boden zu ritzen.
„Sie haben also Übung im Beschwören von Dämonen? Können Sie mir sagen, was ich zu erwarten habe?“ fragte ich.
„Naja...“ Er wirkte etwas verlegen. „Möglicherweise wird es nicht besonders beeindruckend. Ich habe schon manchmal etwas gesehen ... weiße Schwaden ... irgendwie.“
Nun, mir kam es nicht auf ein spektakuläres Ergebnis an, sondern auf das Ritual als solches. Ich trat näher an den Kreis und betrachtete die Zeichen, die er rund um dessen inneren Rand in den Boden grub. „Könnten Sie mir erklären, was die zu bedeuten haben?“ bat ich.
„Das hier oben ist der Name des Dämons in hebräischen Lettern“, erläuterte er bereitwillig. „Der Rest ... den habe ich aus einem Buch abgemalt.“ Er reichte mir das Papier, nach dem er gearbeitet hatte. „Leider ist das nur eine Kopie von einem Nachdruck und nicht besonders deutlich.“
„Ja, die Qualität ist wirklich mies“, bestätigte ich. „Sehen Sie, dieser Strich gehört gar nicht zu der Glyphe, das ist nur verwischte Druckerschwärze.“ Ich radierte ihn auf dem Boden aus. „Und was hier wie ein zerquetschter Seestern aussieht, sind eigentlich zwei Zeichen. Außerdem sind die Runen da unten unvollständig.“ Ich klaubte einen Zweig vom Boden auf und korrigierte die Fehler.
„Aha“, sagte er und legte sein Schwert beiseite. Er sah auf die Uhr. „Es ist fast Mitternacht. Wir sollten uns in den Kreis stellen und mit der Anrufung beginnen.“
Das taten wir. Platz war im Kreis genug, er hatte ihn sehr geräumig konstruiert. „Nach der Anrufung dürfen wir den Kreis nicht mehr verlassen, das wäre sehr gefährlich“, schärfte er mir noch ein. Ich nickte – alle Bücher, die ich zur Vorbereitung studiert hatte, hatten dies betont.
Er holte ein weiteres Blatt Papier unter seiner Robe hervor und begann vorzulesen. Nach einem halben Dutzend Worten unterbrach ich ihn. „Augenblick. Warum sprechen Sie das so aus? Oder hat Ihre Vorlage...“ Ich sah ihm über die Schulter. „Nein, die ist vollständig. Aber warum beachten Sie die diakritischen Zeichen nicht?“
„Die was?“ fragte er ziemlich erstaunt.
„Diese Häkchen und Schnörkel unter und über den Buchstaben. Sie geben die genaue Aussprache an, lange und kurze Vokale, Betonung, verschleifte Silben – warten Sie, ich lese es Ihnen vor, damit Sie einen Eindruck bekommen.“
Ich nahm ihm Papier und Taschenlampe aus der Hand. „Arch garch ragarch“, las ich, „hurumgul bördöl garch.“ Es waren nur sieben oder acht Zeilen, also sprach ich den kompletten Text. Als ich fertig war, gab ich ihm das Blatt zurück. „So ungefähr sollte es klingen. Versuchen Sie es jetzt einmal selbst.“
Aber er hörte mir gar nicht zu, packte mich am Arm, deutete in die Nacht und stammelte: „Da, da, sehen Sie!“
Ich sah auf, und da stand er: ein Dämon, ohne Frage. Mindestens drei Meter ragte er auf, mit gebogenen Hörnern, langen Fangzähnen, schrecklichen Klauen und grüner, schuppiger Haut. Von ihm ging ein unheimliches Leuchten aus, das grünlich den Wald erhellte.
„Großartig“, gratulierte ich meinem Begleiter. „Sie haben es geschafft! Ihr Ritual hat genau das gewünschte Ergebnis gebracht.“
Aber er hörte mir gar nicht zu. Er stammelte etwas, ich verstand kein Wort, er stolperte rückwärts, weiter rückwärts, noch einen Schritt ... und trat über den Rand des Kreises. Der Dämon reagierte sofort: Blitzschnell schappte er sich meinen Begleiter, riss ihn in die Luft und machte sich genüsslich daran, ihm den Kopf abzubeißen.
Das ging mir dann doch zu weit. „Lass das“, herrschte ich den Dämon an. Der grinste bloß und legte sich sein Opfer mundgerecht zurecht.
„Wenn du ihn nicht sofort loslässt, bringst du mich noch dazu, dass ich wirklich an dich glaube“, drohte ich, und das half. Er ließ sein Opfer fallen wie eine heiße Kartoffel, schrumpfte zusammen und wurde blass. Was bei ihm dazu führte, dass seine grünen Schuppen einen gelblich-welken Ton annahmen.
Mein Begleiter nutzte die Gelegenheit und taumelte in den Kreis zurück. Er klammerte sich an meinen Arm. „Das war reichlich unvorsichtig von Ihnen“, rügte ich ihn, mehr besorgt als erbost.
„Wie war das eben?“ fragte er atemlos. „Womit haben Sie ihm gedroht? ‘Ich fange noch an, wirklich an dich zu glauben’? Was soll das heißen?“
Ich fand es bewundernswert, dass mein Begleiter in seiner doch recht heiklen Lage noch auf solche Einzelheiten geachtet hatte. „Es ist wenig bekannt, aber Dämonen leiden an Existenzangst“, erklärte ich.
„Was?“ fragte mein Begleiter erstaunt.
„Sie fürchten sich davor, wirklich zu existieren. Das kann man ausnutzen, wie Sie sehen.“
„Ich verstehe nicht. Was genau soll das bedeuten?“
„Sehen Sie sich den Dämon einmal an", sagte ich. "Sie werden bemerken, dass er sich dauernd wandelt. Eben waren die Hörner gekrümmt, jetzt sind sie gerade. Seine Haut sah wie die einer Schlange aus, jetzt wirkt sie eher wie Baumrinde. Der Grünton wechselt auch, die Größe, seine Gesichtszüge – alles verändert sich ständig, zwar im Rahmen gewisser Vorgaben, aber nichts bleibt konstant.
Das ist aber nur möglich, weil keiner von uns wirklich an ihn glaubt. Würden wir an ihn glauben, dann müsste er existieren, und zwar auf eine ganz bestimmte Weise: Ein Dämon mit dieser Hautfarbe, sagen wir, mit gebogenen Hörnern wie ein Widder, langen, scharfen Klauen – sehen Sie, wie er sich meinen Vorgaben anpasst? Sein Erscheinungsbild wird jetzt stabil.
Das heißt, er existiert jetzt wirklich, und für einen Dämon bedeutet das den Verlust seiner Freiheit. Es ist ein äußerst unangenehmer Zustand für ihn.“
Tatsächlich sah man dem Dämon an, dass er sich nicht wohlfühlte. Er krümmte sich, als wollte er meinen Vorstellungen ausweichen, und schielte ängstlich zu uns herüber. „Meister, könntet Ihr...“, presste er schließlich hervor.
„’Tschuldigung“, sagte ich. „Mal sehen, was ich da tun kann.“ Ich legte theatralisch eine Hand an die Stirn und rief: „Ein Dämon? Das kann nicht sein! Ich kann nicht glauben, dass es so etwas wirklich gibt!“ Das war zwar mehr oder weniger gespielt, aber es wirkte: Augenblicklich verloren die Einschränkungen ihre Kraft. Der Dämon verwandelte sich ein paar Mal schnell hintereinander und nickte mir dann erleichtert zu.
„Diese Existenzangst ist der Grund, warum Dämonen niemals vor Menschen erscheinen, die wirklich an sie glauben“, erklärte ich. „Menschen, die fest an Dämonen glauben, sind vor ihnen sicher. Paradox, aber wahr. Sie haben es also genau richtig gemacht. Ist Ihrer nicht ein wirkliches Prachtexemplar?“
Mein Begleiter starrte den Dämon an, der ihm freudig zugrinste und dabei seine Reißzähne blitzen ließ. Die Augen meines Begleiters wurden immer größer, sein Gesicht zeigte immer mehr Entsetzen, und als der Dämon auch noch Rauch aus seinen Nüstern dringen ließ, da murmelte er etwas wie „Maria, hilf...“, verdrehte die Augen und sackte in sich zusammen.
Ich konnte ihn gerade noch auffangen, ließ ihn sanft zu Boden gleiten und fühlte seinen Puls. Nur eine mittelschwere Ohnmacht, in ein paar Minuten würde er wieder zu sich kommen. Beruhigt brachte ich ihn in eine stabile Seitenlage und wandte mich dem Dämon zu.
„Das war wohl alles ein wenig zu viel für ihn“, sagte ich entschuldigend. „Es würde ihm sicher nicht gut tun, wenn er als erstes dich sieht, wenn er wieder aufwacht. Du machst dich also besser davon. Vielen Dank für dein Erscheinen.“
„Ich kann nicht einfach so gehen, oh Erhabener“, grollte der Dämon. „Ich wurde gerufen, jetzt muss ich formell entlassen werden. Und zudem muss ich meinen Auftrag erfüllen, das gebietet das unumstößliche Gesetz der Dämonen.“
„Und was ist dein Auftrag?“
„Ich habe Kenntnis von allen versunkenen Schätzen in den Tiefen der Erde und den Abgründen des Meeres“, verkündete er stolz. „Dem, der mich ruft, bringe ich unvorstellbare Reichtümer.“
„Herrenlose Schätze?“ fragte ich.
„Versunken in den Tiefen der Zeit, von den Menschen vergessen, oh Machtvoller“, bestätigte er.
Ich sah anerkennend auf den Bewusstlosen zu meinen Füßen. Also hatte er den Dämon zu einem moralisch absolut vertretbaren Zweck gerufen.
„Also gut“, sagte ich, „wenn du einen Schatz herbringen musst, dann tu es eben. Aber hier können wir ihn nicht gebrauchen. Mein Wagen steht auf dem Parkplatz vor dem 'Waldschlösschen', da könntest du ihn abliefern. Was deine Entlassung angeht ... lass mich nachdenken.“
Ich kannte die üblichen Formeln, aber ich hatte sie natürlich nicht auswendig gelernt. Die meisten von ihnen waren lang und erschienen mir unnötig kompliziert formuliert, denn am Ende liefen sie alle auf dasselbe hinaus. Ich beschloss, es mit einer auf das Wesentliche reduzierten Form zu versuchen. „Tue deine Arbeit, danach betrachte dich als entlassen. Gehe dorthin zurück, wo du hingehörst ... ach ja, und belästige keinen Menschen, solange du noch im Diesseits weilst. Und nochmals vielen Dank. Reicht das?“
Er verneigte sich tief. „Ich höre und gehorche, oh Unübertrefflicher.“ Sprach's und verschwand.
Ich kümmerte mich um meinen Begleiter, der kurz darauf zu sich kam. Als er sah, dass kein Dämon mehr zugegen war, erholte er sich rasch. Ich brachte ihn zu meinem Wagen und fuhr ihn nach Hause. Dort bot ich ihm an, noch bei ihm zu bleiben, aber er dankte mir und sagte, es ginge ihm wieder gut. Ich verabschiedete mich also und fuhr zurück zu meiner Wohnung, wo ich mich gleich daranmachte, meine Erlebnisse niederzuschreiben. Das war das Ende dieser Nacht.

Es war aber noch nicht das Ende der Geschichte. Drei Tage später wollte ich einkaufen fahren und bei dieser Gelegenheit eine Kiste voller Pfandflaschen mitnehmen. Als ich den Kofferraum öffnete, um sie zu verstauen, schlug mir ein scharfer Geruch nach vergammeltem Tang entgegen.
Ich starrte in meinen Kofferraum, der fast ganz von einer uralten Truhe ausgefüllt wurde. Das Holz war vom Salzwasser fast weiß gebleicht und die schweren Eisenbänder vom Rost zerfressen. Sie musste Jahrhunderte alt sein.
Sie ließ sich nicht öffnen, entweder war sie verschlossen oder das Schloss zusammengerostet. Ich griff mir einen Schraubenschlüssel, und die verrosteten Beschläge gaben fast sofort nach. Drinnen glitzerte Gold, und Edelsteine funkelten.
Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, die Schätze zu sortieren. Zu einem Drittel war die Truhe mit spanischen Golddublonen gefüllt, darauf lagen ungeschliffene Edelsteine, die wohl einst in längst zerfallenen Beuteln gesteckt hatten, sowie einige massiv goldene Kerzenleuchter und edelsteinbesetzte Kelche.
Schließlich schlug ich den Kofferraumdeckel wieder zu und setzte mich in den Wagen, um zu meinem Begleiter zu fahren und ihm das Ergebnis seiner Beschwörung zu bringen. Dort aber erfuhr ich von seiner Vermieterin, dass er nicht mehr bei ihr wohnte. Gleich am Morgen nach dem Ritual hatte er gekündigt, ihr einen Teil seiner Sachen geschenkt und war in ein Kloster eingetreten.
Es dauerte einige Zeit, bis ich ihn überreden konnte, mich dort zu empfangen. Ich erzählte ihm von dem Schatz, der ihm zustand, aber er weigerte sich rundheraus, auch nur ein Stück davon anzunehmen. ‘Dämonisch verseucht’, sagte er, er wollte nichts damit zu schaffen haben, ich sollte ihn behalten. Es gelang mir nicht ihn umzustimmen.
Mir war es gar nicht recht, mir diese Schätze anzueignen, zu deren Erwerb ich aber auch gar nichts beigetragen hatte. Schließlich spendete ich den schönsten der Kelche anonym dem Kloster. Ich verstehe seine übertriebene Furcht vor dem Umgang mit Dämonen nicht, aber immerhin hat er wohl die richtige Wahl getroffen: Wo man so fest an diese Wesen glaubt, wird es kein Dämon wagen zu erscheinen

© P. Warmann