Ein seltsames Haus.

Ich komme nach Hause. Ich wohne in einem Mietshaus mitten in der Stadt, und meine Wohnung ist die alleroberste, im Dachgeschoss. Vor dem Haus stehend werfe ich noch einen Blick nach oben und sehe die Birken oben auf dem Nachbarhaus. Wehende grüne Blätter vor blauem Frühlingshimmel, wirklich ein sehr schöner Anblick. Trotzdem frage ich mich, wie lange das gutgehen wird.
Zwar reden die Bewohner des Hauses von ihrem ‘Dachgarten’, aber Tatsache ist, dass vor einigen Jahren ein Sturm sämtliche Ziegel weggerissen hat und niemand daran dachte, das Dach wieder decken zu lassen. In dem, was einmal der Dachboden war, wachsen auf angewehter Erde jetzt Gras, Birken, mindestens ein Ahorn – und ist das da in der Ecke nicht ein kleiner Mammutbaum? Ich bin wirklich gespannt, wie das weitergehen wird.

Unten in unserem Haus ist eine Musikalienhandlung, und mir fällt ein, dass ich noch Noten brauche. Drinnen ist der Inhaber mit einem Kunden beschäftigt, offensichtlich einem Cellisten, der ein neues C abholt. Ein Blick nach hinten in die Werkstatt zeigt mir, wie der Tonsetzer einem A-Moll-Akkord den letzten Schliff gibt. Offensichtlich ist der für einen Konzertflügel gedacht, ein prachtvolles Stück.
Ich suche in dem Korb mit den gemischten Noten und finde eine Tüte, die mir gefällt. Hauptsächlich ist Klangbruch darin, damit kann ich mein Windspiel aufladen. Es gibt aber auch ein paar längere Noten, manche etwas schief, andere am Ende etwas eingerissen, aber ich mag es, sie in den verschiedenen Räumen aufzuhängen, wo sie dann langsam verklingen.
Der Cellist hat inzwischen den Laden verlassen, und ich bezahle.
„Übrigens“, sage ich, „eine von Ihren Tüten scheint undicht zu sein. Da hinten schwirrt ein orientierungsloses Fis umher.“
„Ach, da steckt das! Nein, das ist uns vorhin aus der Werkstatt entkommen. Vielen Dank für den Hinweis.“

Langsam steige ich die Treppen empor. Ich mag dieses Haus. Ich bin der älteste Mieter, ich wohne schon seit 57 Jahren in dieser Wohnung, immerhin zehn Jahre länger, als das Haus überhaupt steht.
Im ersten Stock haben zwei junge Leute Wohnung und Praxis, sie arbeiten als Wort-Restauratoren. Inzwischen lassen immer mehr Menschen ihren Wortschatz überarbeiten, Phrasen entfernen und neue, geschliffene Formulierungen einbauen. Die beiden restaurieren aber auch einzelne Worte, wenn diese durch den Gebrauch abgeschliffen sind oder durch falsche Benutzung Schaden genommen haben. Im Moment sind sie mit einem ziemlich ungewöhnlichen Auftrag beschäftigt: Sie kümmern sich um eine ganze Reihe von Wörtern mit Regenschäden, die jemand über Nacht im Garten vergessen hatte.

Im zweiten Stock dringt leises Gebell aus einer Wohnung. Ich muss lächeln. Es klingt ziemlich nach Hund, ist aber die Katze meines Nachbarn. Sie hat einen Kursus belegt – es ist immer von Vorteil, wenn man Fremdsprachen kann.
Dann steige ich am dritten Stock vorbei, und dann am dritten Stock vorbei. Ja, es gibt ihn doppelt. Eine sehr seltsame Sache. Angefangen hat es damit, dass sich das Pärchen, das im vierten Stock wohnte, getrennt hat. Er bekam die Wohnung, und als er auszog, hat er sie mitgenommen. Kurzfristig gab es also keinen vierten Stock, und offenbar hat sich, um die Lücke zu füllen, der dritte Stock verdoppelt. Mit der Wohnung und den Bewohnern. Die gibt es jetzt auch doppelt, wobei ich mich frage, ob es zweimal die gleichen Leute sind oder dieselben. Es ist schon merkwürdig, sie gleichzeitig auf dem Balkon sitzen oder ihre Fenster putzen zu sehen.

Ich öffne meine Wohnungstür und werde von meiner Schildkröte begrüßt, die aufgeregt um mich herumspringt. Sie hat gehört, dass ich frische Noten in der Tasche habe. Ich mache die Tüte auf und gebe der Kleinen einen schönen satten Gongton. Begeistert schnappt sie sich ihn, und ich muss lachen bei dem Gedanken, dass ich in den nächsten Tagen keine Schwierigkeiten haben werde, sie zu finden: Aus der Tiefe ihres Panzers heraus gongt es leise.

© P. Warmann