Noch einmal der Meditationslehrer.

Schon seit gut einem Jahr unterrichtete ich nun am ‘Institut für spirituelle Aus- und Weiterbildung’. Mein Spezialgebiet ist Selbstverteidigung durch Nicht-Handeln – dabei lernt der Schüler, sich vollkommen auf den Gedanken zu konzentrieren, dass ein Angriff auf ihn unmöglich ist. Steht er dann einem Angreifer gegenüber und verharrt nicht-handelnd in dieser Geisteshaltung, wird der Gegner völlig entmutigt aufgeben. Ich rate allerdings davon ab, diese Technik zu früh gegen entschlossene Gegner anzuwenden, da dafür völlige Bewusstseinskontrolle nötig ist, sonst kann sehr schnell völlige Bewusstlosigkeit folgen.

Ich war gerade erfrischt aus meinem sechswöchigen Urlaub zurückgekommen und war im Institut, um an einer Versammlung der Lehrkräfte teilzunehmen. Das Kursangebot für das nächste halbe Jahr sollte festgelegt werden.
Als einer der letzten betrat ich den Seminarraum. Es gab einige neue Gesichter, etwa eine Asiatin, die sich mit dem Meister unterhielt. Beide betrachteten ein großes bauchiges Glasgefäß, das hauptsächlich Sand zu enthalten schien, aus dem einige kahle Stängel ragten.
„Das ist Frau Tanaka“, stellte mir der Meister die Dame vor, „die demnächst bei uns die Kunst des Blumensteckens unterrichten wird. Sie ist eine Meisterin des Sahne-Ikebana, aber dieses Gesteck hier ist etwas ganz besonderes.“
„Es folgt dem Motto ‘zurück zu den Wurzeln’ “, erläuterte sie. „Blüten und Blätter verschwinden im Sand, und nur die Stängel lassen uns ahnen, welche Schönheit vor unserem Blick verborgen ist.“
Ich war beeindruckt.

„Wie war Ihr Urlaub?“ fragte mich der Meister.
„Oh, sehr erfrischend. Ich habe den Himalaya durchwandert – und ich meine durchwandert. Was mich an Bergen schon immer gestört hat, ist, dass sie ständig im Wege herumstehen. Wenn man irgendwo hin will, muss man entweder endlose Umwege drumherum machen oder mühsam hoch und wieder runter steigen. Also habe ich mir die ganze Nerverei gespart und bin einfach hindurchgegangen.“
„Ich wusste, dass Sie gelegentlich durch Wände gehen“, sagte der Meister. „Aber ein ganzer Berg ist doch etwas anderes...“
„Ach, nicht wirklich. Wenn man für ein, zwei Kilometer die Luft anhalten kann, ist es gar kein Problem. Obwohl die Aussicht draußen natürlich besser ist. Und es gibt auch gewisse Probleme mit der Steinlaus...“
Er schauderte. Dann warf er einen Blick in die Runde, stellte fest, dass alle anwesend waren, und bat uns Platz zu nehmen.

Als erstes gab er einen kurzen Überblick über die Kursplanung. Größtenteils boten dieselben Dozenten dieselben Kurse an. „’Töpfern mit gefesselten Händen’ sollten wir auslaufen lassen“, schlug die zuständige Dozentin vor. „Ich würde statt dessen gerne einen Anti-Ballast-Kurs anbieten.“
„Beschreiben Sie das bitte“, sagte der Meister.
„Dabei trägt die Teilnehmerin einen alten Pullover, der mit Tapetenkleister getränkt wird. Während der Kleister noch weich ist, werden Zettel darauf geklebt, auf denen Angewohnheiten notiert sind, die man loswerden möchte. Sobald der schnelltrocknende Kleister dann hart ist, wird der Pullover aufgeschnitten und mit den ganzen Gewohnheiten als Ballast abgeworfen. Das ist sehr befreiend.“
„Klingt gut“, sagte der Meister. „Ja, das werden wir anbieten. Hat sonst noch jemand einen Vorschlag?“
„Keinen Vorschlag, aber eine Bitte“, sagte einer jener Dozenten, die ich noch nicht kannte. „Ich bräuchte zwei Tage und vielleicht einen Helfer, um die Anlage aufzubauen.“
„Ja, natürlich. Besprechen Sie das mit dem Sekretariat. Bei der Anlage handelt es sich um eine Modelleisenbahn“, sagte der Meister erklärend.
„Da mein Sohn sie nicht mehr braucht... Äh, ich meine, der Titel des Kurses ist ‘Abstand gewinnen – die Welt neu sehen lernen’ “, erläuterte der neue Dozent. „Beim freien Spiel mit der Eisenbahn gewinnen die Teilnehmer eine ganz neue Perspektive auf die wirkliche Welt, sozusagen aus größerer Höhe.“
„Jedenfalls ist der Kurs jetzt schon fast ausgebucht“, sagte der Meister. „Nun noch eines: Wir werden ab jetzt die Kurse zu den Menschen tragen. Das bedeutet, dass wir in Zusammenarbeit mit einer Reihe von größeren Firmen Kurse für die Mittagspause anbieten, die jeweils dort abgehalten werden. Ich bitte alle Dozenten um Vorschläge.
Fest stehen schon ‘Schamane werden im Schnelldurchlauf’, ‘Achtsamkeit beim Händewaschen’ – das ist eine Zen-Technik – und ‘Stressabbau mit dem Radiergummi’. Die Kurse sollen fünf bis fünfzehn Minuten dauern.“
„Wie wäre es mit einer Spinnennetz-Meditation?“ schlug ich vor. „Die Spinne braucht etwa eine Viertelstunde.“
„Ja, sehr gut“, sagte der Meister und machte sich eine Notiz.

Da keine weiteren Vorschläge kamen, beendete er das Treffen. Auf dem Weg nach draußen sprach er mich noch einmal an. „Ich habe gehört, Sie wandeln über das Wasser? Man hat Sie einige Male die Förde zu Fuß überqueren sehen.“
„Das stimmt“, sagte ich. „Es ist eine Abkürzung, und ich muss dann nicht auf die Fähre warten. Aber es ist ein kleiner Trick dabei: Ich wandle gar nicht auf dem Wasser – ich überquere es auf Quallen.“

© P. Warmann