Alex verliert sein Unten.

Ich klingelte an seiner Tür, und mein Freund Alex machte mir auf. „Ich war zufällig in der Nähe...“, sagte ich, brach dann ab und starrte ihn verwundert an. Er hing nämlich sozusagen quer vor der Türöffnung, was daran lag, dass er auf der Wand stand und nicht auf dem Fußboden. „Was ist denn mit dir los?“
Er kratzte sich verlegen am Kinn. „Tja, mein Unten ist verschwunden.“
„Hast du es verloren?“
„Eher verlegt. Ich habe es vorhin in der Werkstatt abgelegt, weil ich besser arbeiten kann, wenn ich nicht weiß, wo oben und wo unten ist, und als ich es wieder anlegen wollte, war es weg. Ich habe es überall gesucht, aber es ist verschwunden.“
Ich stellte mir das Chaos in seiner Werkstatt vor und schauderte. „Soll ich dir beim Suchen helfen?“
„Würdest du? Das wäre nett...“
„Komm her“, sagte ich. „Solange ich hier bin, kannst du mein Unten mitbenutzen.“ Er griff nach meiner Schulter und landete mit einem Krachen auf dem Fußboden.
„Autsch“, sagte er. Und dann „Danke.“
Ich packte ihn am Handgelenk, und wir gingen in seine Werkstatt. Dort sah ich mich um, konnte sein Unten aber auf die Schnelle nirgendwo entdecken. Alex erklärte mir, wo er es hingelegt hatte, und dass er Regale und Boden gründlich abgesucht hätte. Mir fiel auf, dass ein Fenster offen stand.
„Könnte es ein Windstoß irgendwo hingeweht haben?“ fragte ich.
„Glaube ich nicht ... naja, möglich wäre es.“
„Vielleicht hier rein?“ Zwischen Werkbank und Wand war ein handbreiter Spalt. Ich spähte hinein, konnte aber nichts erkennen.
„Möglich. Sehen wir mal nach.“ Er kramte nach einer Taschenlampe, und ich betrachtete das halb auseinandergenommene Gerät, das auf der Werkbank lag.
„Was ist das hier eigentlich?“
„Modell 2.0 vom Phrasenabzug. Lässt von allem, was jemand in seiner Reichweite sagt, nur die Teile mit Bedeutung durch. Ich arbeite gerade an dem Feintuning für Anekdoten und Witze.“
„Aha.“ Ich leuchtete in den Spalt, konnte aber immer noch nichts erkennen. Also begann ich das Gerümpel wegzuräumen, das vor der Lücke stand.
„Was liegt da eigentlich alles?“ wollte Alex wissen.
Ich öffnete die schmale Schachtel, die obenauf gelegen hatte.
„Oh, das ist mein Kurzzeitmesser. Vorsicht, es ist scharf.“
„Kann man damit Sekunden schneiden?“
„Zehntelsekunden, wenn du willst. Ich benutze es nur selten, weil ich meine Zeit normalerweise nicht so fein einteile.“
Ich legte die Schachtel beiseite. Als nächstes kam eine Dose, auf der ‘Schrauben und Dübel’ stand. Ich sah hinein – genau das war auch drin. Die nächste Schachtel war größer, und auf ihr stand ‘Dichtungen’. Ich machte sie auf, und auch diese Beschriftung stimmte: Shakespeares Sonette, ein dünner Band Rilke und verschiedenes von Goethe.
Ganz unten standen zwei große Farbdosen, die Deckel sorgfältig mit Klebeband gesichert. Sie waren schwer.
„Was ist da drin?“ fragte ich Alex.
„Weiß ich nicht, ich bewahre sie für Kathrin auf.“
„Wer ist Kathrin?“
„Keine Ahnung, ich kenne keine Kathrin.“
Ich schob die Dosen beiseite und leuchtete in den Spalt. Alles, was ich sah, war ein verstaubter Karton. Ich zog ihn heraus. ‘Vorsichtig öffnen’ stand darauf.
Ich schüttelte ihn und lauschte. Leises Geraune drang an mein Ohr. Ich schüttelte ihn stärker, und jetzt konnte ich etwas verstehen. ‘Die Europäische Gemeinschaft plant, eine gemeinsame Währung einzuführen’, hörte ich. ‘Zur Jahrtausendwende werden alle Computer versagen’. Und ‘Mobiltelefone werden sich nicht durchsetzen’.
„Uralte Gerüchte“, sagte ich. „Warum hebst du so etwas überhaupt auf?“
Er nahm mir den Karton aus der Hand und schüttelte ihn. „‘Deutsches Vieh ist sicher vor dem Rinderwahn’? Du hast Recht, das Zeug hat wirklich sein Verfallsdatum überschritten.“ Er nahm die Schachtel und kippte den Inhalt einfach aus dem Fenster. Wir hörten noch einen Augenblick lang leises Gemurmel, dann lösten sich die Gerüchte im Sonnenlicht auf.
Ich leuchtete in den Spalt und grinste. „Sieh mal, was hier liegt.“
Alex bückte sich. „Mein Unten! Du hattest Recht!“ Er schob sich an mir vorbei, streckte sich und griff danach. Ich sah, wie es mit einem Ruck einrastete.
Alex kam wieder hoch und schlug mir auf die Schulter. „Mann, ich danke dir. Gibt es irgend etwas, was ich für dich tun kann?“
„Hast du irgendwo Zwischenraum? Seit ich im Schlafzimmer den neuen Schrank habe, kann ich die Tür nicht mehr ganz öffnen.“
„Klar, sicher“. Er tauchte in einen der Schränke und reichte mir eine fast volle Rolle Zwischenraum. „Willst du den Schrank nicht lieber zu einer Änderungsschreinerei bringen? Da könntest du ihn kürzen lassen.“
„Ach nein, es sind nur ein paar Zentimeter. Wenn ich die Kante mit zwei, drei Schichten Zwischenraum abklebe, sollte das reichen.“
Ich steckte die Rolle ein, dann gingen wir in die Küche, um uns einen Kaffee zu machen.

© P. Warmann