Die Schlossführung.

Sommerurlaub. Meine Frau und ich hatten beschlossen, uns an diesem Tag etwas Kultur zu gönnen und eine Schlossführung mitzumachen. Ein Dutzend Leute hatte sich versammelt, und der Führer begann mit seinen Erklärungen.
„Wir befinden uns hier im äußeren Schlosshof, direkt vor der Ruine der Schlosskirche. An das romanische Kirchenschiff wurden in der Spätgotik zwei hohe Türme angebaut. Da der Baumeister eine völlig neue Gewölbekonstruktion gewählt hatte, beschloss man zwei Türme zu bauen, in der Hoffnung, dass bei einem Konstruktionsfehler nur einer davon einstürzen würde. Leider baute man zwei identische Türme ... und die Konstruktion war fehlerhaft.
Ein genialer Versuch, die Turmruinen doch noch zu retten, indem man beim Wiederaufbau die Turmspitzen in den noch stehenden Turmstümpfen nach innen abwärts richtete, scheiterte leider. Dies stellte nämlich auch die Glockenaufhängung auf den Kopf und machte das Läuten unmöglich.
Bitte folgen Sie mir zur alten Festungsmauer. Von hier aus hat man einen wunderbaren Blick auf die ausgedehnten Gartenanlagen, die Herzog Hugo IX. begann und sein Sohn Hugo VIII. fertigstellte.“
„Moment“, warf ich ein, „geht da nicht die Nummerierung durcheinander?“
„Ja, aber das hat schon seine Richtigkeit. Als der spätere Hugo IX. von seinem Vater Hugo VII. die Herzogswürde erbte, stellte sich heraus, dass er extrem allergisch gegen Vs war. Es bestand sogar Lebensgefahr – die heutigen Desensibilisierungstherapien waren damals noch nicht bekannt. Daher beschloss man, eine Ordnungszahl zu überspringen. Sein Sohn sollte eigentlich als Hugo X. gezählt werden, aber die Familie war zu dieser Zeit in ernsten finanziellen Schwierigkeiten, X waren knapp und sehr teuer, während ein Überangebot an Is bestand. So entschloss er sich, die übersprungene Zahl nachzuholen.
Der Teil des Gartens direkt unter den Schlossmauern ist dem originalen Barockgarten nachempfunden, nur bilden, wie Sie sehen können, die Buchsbaumhecken jetzt das Logo eines großen Getränkeherstellers. Der Unterhalt solcher Gärten ist eben sehr kostspielig und ohne Sponsor nicht zu finanzieren. Leider wurden in diesem Zusammenhang auch die Bäume im mehrere Hektar umfassenden Landschaftspark rot und weiß gestrichen.
Bitte folgen Sie mir jetzt in den inneren Schlosshof. Der Südflügel stammt aus der Spätrenaissance, der Ost- und der Nordflügel kamen im Barock hinzu. Der Westflügel, der ebenfalls aus dieser Zeit zu stammen scheint, ist tatsächlich eine Schöpfung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er wurde aus Symmetriegründen hinzugefügt, für seine Erbauung wurden Wirtschaftsgebäude und der frühmittelalterliche Alte Palas abgerissen. Der Westflügel besteht im Inneren übrigens nur aus einem schmalen Mittelgang und zwei Reihen von Zimmern, die etwa 80 Zentimeter tief sind. Das Schlosspanorama, wie es von der Stadt aus zu sehen ist, hat durch diesen Flügel sehr gewonnen.
Der größte Teil des Schlosses kann von innen leider nicht besichtigt werden, da es noch immer von der Herzogsfamilie bewohnt wird. Aber wenn Sie mir bitte durch diese Tür folgen wollen, wir kommen jetzt zur herzoglichen Kunstkammer. Aus Sicherheitsgründen befindet sie sich in den ehemaligen Verliesen.
Als erstes sehen Sie hier alle herzoglichen Taufgewänder seit Hugo III. Weiterhin haben wir die vollständigste Sammlung portugiesischer Briefmarken außerhalb des Ursprungslandes, außerdem eine echte Gutenberg-Bibel und das berühmte Salzfass in Form eines in einem Schwanenboot fahrenden Ritters aus 600 Gramm purem Gold. Die Vitrinen hier hinten enthalten Exponate aus der herzoglichen Porzellanmanufaktur, sowohl die Mokkatassen wie die kleine und die große Vase in allen ihren Variationen. Es ist bemerkenswert, dass sich in vierhundert Jahren weder Form noch Dekor im geringsten verändert haben.
Das Prunkstück aber sind die herzoglichen Insignien, die Sie hier in diesem besonders gesicherten Schaukasten sehen: die Herzogskrone, das Zepter und ein gekrümmter Gegenstand, dessen Funktion unbekannt ist. Es handelt sich um genaue Repliken der im Zweiten Weltkrieg verschollenen Insignien, die Kopien der im Dreißigjährigen Krieg verloren gegangenen Objekte waren, die wiederum Repliken der im Bauernkrieg wahrscheinlich eingeschmolzenen Stücke gewesen sind, von denen man annimmt, dass es die Originale waren.
Und noch eine kleine Kuriosität: Sehen Sie die fest verschlossene hölzerne Luke dort in der Wand? Bis zu Herzog Hugo VII. war es üblich, zum Tode verurteilte Feinde aus dem höchsten Turmfenster zu stürzen. Sie fielen dann allerdings in den sehr tiefen, mit Wasser gefüllten Schlossgraben, und viele überlebten den Sturz. Etlichen gelang es zum Ufer zu schwimmen, und das galt als Gottesurteil und hatte ihre Begnadigung zur Folge. So kam Hugo VII. auf die Idee, hier im Verlies, das direkt an den Schlossgraben grenzt, weit unter der Wasseroberfläche eine Luke einbauen zu lassen, durch die die Gefangenen direkt in den Graben gestoßen werden sollten. Aus unerfindlichen Gründen wurde sie aber nie benutzt.
Ich hoffe, Sie hatten Ihre Freude an der Schlossbesichtigung, und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

„Wie gefiel dir die Führung?“ wollte meine Frau wissen, als wir uns auf den Rückweg zum Hotel machten.
„Wenn ich noch mal Lust auf Kultur bekomme“, brummte ich, „sage mir bitte, ich soll es mir aus dem Kopf schlagen. Wenn das nichts hilft, schlage du es mir aus dem Kopf, zur Not mit einem großen Knüppel.“

© P. Warmann