Der Realitätshobel.

Neujahrsmorgen, und mein Telefon klingelt. Ich sollte nicht rangehen, schließlich habe ich dienstfrei, und es ist der Morgen nach der Silvesternacht, verdammt noch mal! Aber der Klingelton sagt mir, dass es die Zentrale ist, und wenn die mich aus dem Bett holen, dann haben sie einen Grund dafür. Also gut.
„Frohes Neues Jahr“, begrüßt mich Verena, die unbegreiflich tüchtige Assistentin des Chefs. „Guten Morgen, XXXT, wir haben einen Notfall.“
Ich murmele etwas und werfe einen Blick auf den Wecker. Vier Minuten nach Acht. Am Neujahrsmorgen! „Was ist denn so wichtig?“ grummle ich.
„Im Ristorante Bologna in der Friedensstraße gibt es eine Mäuseplage.“
„Seit wann ist das ein Fall für einen Triple-X-Agenten?“
„Es handelt sich um Micky-Mäuse.“
Oh. Das klingt nach einem gröberen Fall von Realitätsverschiebung und damit tatsächlich nach einer Angelegenheit für das Bundesamt für Wirklichkeitsschutz. Für das ich Agent bin. Also auf in den ersten Einsatz des neuen Jahres.

Unten wartet ein auffällig unauffälliger Wagen mit getönten Scheiben und unerkennbarem Kennzeichen. Das heißt, man kann es problemlos lesen, aber in dem Moment, wo man es erkennt, hat man es auch schon vergessen. Angewandte Chaostheorie.
Während ich zum Schauplatz der Merkwürdigkeiten kutschiert werde, denke ich über unsere Behörde nach. Die Väter des Grundgesetzes haben entschieden, dass der Bürger sich unbedingt darauf verlassen können muss, dass es eine und nur eine Wirklichkeit gibt. Daher schufen sie das Amt, das seitdem dafür sorgt, dass alle größeren Irrealitäten ermittelt und aus der Welt geschafft werden.
Nun bin ich zwar auch dafür, dass unbescholtene Bürger davor geschützt werden sollten, von einer Realitätsfalte plötzlich und unerwartet in eine Sechskant-Hutmutter verwandelt zu werden. Im kleineren Maßstab halte ich aber das Unerwartete für die Würze des Lebens. Nur aus der Verwirrung erwächst die Erkenntnis! (Ich bin praktizierender Chaot.)
Warum mache ich dann diesen Job? Das ist eine lange Geschichte. Sagen wir, es gibt keine bessere Möglichkeit, mit so viel Unwirklichkeit, Chaos, Unerwartetem und so weiter in Berührung zu kommen. Außerdem wird er glänzend bezahlt, und als Triple-X-Agent hat man jede Menge Vergünstigungen. Daneben habe ich noch persönliche Gründe, aber die gehen nur mich etwas an.

Am Ristorante hat die Polizei die Straße weiträumig abgesperrt. Im Moment scheint aber nichts los zu sein, diverse Polizisten stehen herum, frieren und trinken Behördenkaffee. Auch die Ankunft meines Wagens ruft nur mäßiges Interesse hervor. Ich zeige einem Uniformierten meinen Ausweis. Er zeigt sich kaum beeindruckt und meint: „Ihr Kollege ist da hinten.“
Erfreut über diesen Mangel an Respekt vor meinem Status (Respekt vor meiner Person ist etwas ganz anderes) wate ich durch knöcheltiefe Böllerreste und leere Sektflaschen. Der Kollege ist sehr jung, trägt einen Kamelhaarmantel, der nur vorgibt ein Wintermantel zu sein, friert entsprechend und stellt sich vor als „Agent XP, Steinmeier“. „Nein, ich bin nicht verwandt“, setzt er hinzu. Nachdem das geklärt ist, lasse ich mir einen Lagebericht geben.
„Heute Morgen um Sieben kam die Restaurantbesatzung, um alles für das große Sektfrühstück vorzubereiten“, berichtet er. „Sie schlossen auf und wurden sofort von hunderten von Micky-Mäusen überfallen, die überall im Lokal herumwuselten und quiekten und sangen und überhaupt nur Chaos anrichteten. Sie haben versucht, sie zu verscheuchen und dann mit dem Staubsauger aufzunehmen, aber die haben den Staubbeutel von innen aufgerissen und sind wieder rausgeklettert. Da bekamen sie es mit der Angst zu tun und haben die Polizei gerufen.“
Und das Präsidium hatte dann das Amt verständigt, und damit war die Sache an mir hängen geblieben. „Gehen wir rein“, sage ich.

Kaum habe ich die Restauranttür geöffnet, legen die Mäuse los. Von allen Seiten quiekt es und wuselt es. Sie klettern auf die Tische, die Stühle und die Theke – Micky-Mäuse, ohne Frage, etwa zehn Zentimeter groß, mit kurzen Hosen und weißen Handschuhen und den typischen Ohren. Vor uns auf dem Tisch versucht sich eine Truppe von einem Dutzend in Szene zu setzen, sie bekommen das mit dem synchronen Tanzen aber nicht wirklich hin und singen dazu noch grässlich falsch – und nicht einmal alle dasselbe.
„Was ist das hier, ein Talentwettbewerb für Eurodisney?“ grolle ich und wische die Stümperbande vom Tisch, um Platz für meinen Laptop zu bekommen.
„Das ist ein Fall für die Kammerjäger und nicht für einen Triple-X-Agenten“, meint Agent XP.
„Die Zentrale wird schon wissen, warum sie gerade mich verständigt hat“, sage ich abwesend. „Mal sehen, was die Messungen ergeben.“
Als der Rechner die Messergebnisse auf den Bildschirm bringt, stoße ich einen überraschten Pfiff aus. „Das hier ist keine isolierte Realitätsfalte, die man einfach glattbügeln könnte, das ist nur ein Teil von etwas Größerem. Etwas viel Größerem.“
Ich nehme Verbindung zur Zentrale auf und lasse mir die Ergebnisse der Realitätsüberwachung der letzten Nacht überspielen. Das Muster ist sofort erkennbar: Aus dem üblichen Rauschen aus kleineren Irrealitäten, unbedingten Unwahrscheinlichkeiten und wandernden Chaoswirbeln heben sich die Ausschläge deutlich heraus.
„Es beginnt um zwei Uhr nachts mit einer Welle von mindestens 2.2 Irreal“, erkläre ich. „Das setzt sich die ganze Nacht hindurch mit kleineren Ausschlägen fort, alle nur knapp über 1.0 Irreal, aber sie werden langsam stärker. Das hat keine natürliche Ursache, da pfuscht jemand mit der Wirklichkeit herum. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wer und wo.“
„Ich glaube, ich weiß, wer dahinter steckt“, flüstert Agent XP in verschwörerischem Tonfall. „Es ist der Wahnwitzige Doktor Y.“
„Nö“, sage ich.
„Doch, ganz sicher. Ich weiß, dass er sich seit drei Jahren nicht mehr hat blicken lassen, aber die Akte ist noch immer nicht geschlossen. Und was er damals angestellt hat... Ich habe die Akte gelesen... Das hier ist genau seine Handschrift.“
„Nö“, sage ich.
„Wieso sind Sie so sicher?“ fragt Agent XP etwas verunsichert.
„Weil ich der Wahnwitzige Doktor Y bin. Oder besser gesagt war. Ich bin damals zu den Guten übergelaufen. Und das hier war ich nicht.“
„Oh“, sagt er, und starrt mich an, und ich freue mich, dass ich wieder einmal ein Weltbild ins Wanken gebracht habe, einfach dadurch, dass ich die Wahrheit sage.

Ich bitte ihn, mir die Einsatzleiterin der Polizei zu holen, und befrage sie nach merkwürdigen Vorfällen in der letzten Nacht.
„In der Silvesternacht? Fragen Sie mich lieber, ob etwas Normales vorgefallen ist, das wird leichter“, sagt sie, aber dann fallen ihr doch einige Sachen ein, und Nachfragen bei den anderen Dezernaten bringen noch mehr zum Vorschein. Da sind drei unabhängige Vorfälle in Beilbek, bei denen Autofahrer ausweichen mussten, weil plötzlich ein Baum auf die Straße sprang, dann eine Schute im Hafen, die von einem Riesenkraken festgehalten wurde, der ‘La Paloma’ flötete, eine Tuba, die ein belegtes Brötchen kaufen wollte, und ein völlig verstörter, aber nüchterner Radfahrer, den ein Stück Radweg angehoben und in schnellem Lauf zwei Kilometer in eine Richtung befördert hatte, in die er gar nicht fahren wollte.
Wir tragen alle Vorfälle in einen Stadtplan ein und sehen uns das Ergebnis an.
„Konzentrische Kreise!“ sagt Agent XP aufgeregt. „Dort in der Mitte muss er sitzen!“
„Nö“, sage ich. „Wenn wir die Orte in genau der Reihenfolge verbinden, in der die Vorfälle aufgetreten sind, bekommen wir“, ich zeige auf das Ergebnis auf dem Bildschirm, „eine Spirale. Ganz offensichtlich benutzt hier jemand einen Realitätshobel.“
„Einen was?“ fragt die Einsatzleiterin.
„Ein mathematisches Verfahren, oder ein Gerät, das dieses Verfahren anwendet, um eine feine Schicht der Wirklichkeit abzutrennen und immer weiter von der Realität zu entfernen. Und bekanntlich nimmt ein Span, der von einem Hobel abgetrennt wird, eine ganz bestimmte Form an, und zwar...“ Ich blicke die beiden auffordernd an.
„Äh...“, sagt Agent XP, der ‘Hobel’ offensichtlich in der Wikipedia nachschlagen müsste. Die Einsatzleiterin verfügt über mehr praktisches Wissen.
„Der Span dreht sich zu einer Locke. Also eine Art Spirale... Meinten Sie das?“
„Genau. Und wie bei einem Hobelspan liegt der Punkt, der noch mit der ganzen Wirklichkeit verbunden ist, am äußeren Ende der Spirale. Also hier.“ Ich zeige auf den Bildschirm.
„Irgendwo in der Universität“, sagt die Einsatzleiterin.
„Das passt, und deshalb fahre ich jetzt dort hin“, erkläre ich.

Als ich zum Wagen gehe, den ich habe warten lassen, kommen gerade unsere Kammerjäger an. Die Männer in Schwarz packen ihre Geräte aus, und die Micky-Mäuse werden gleich Geschichte sein. Ich übergebe die Leitung der Aktion an Agent XP und mache mich auf den Weg.

Zwischen den Uni-Gebäuden liegt der Böllerschutt noch höher, nur ist hier der Plastikbecher-Anteil größer. Ich ziehe einen tragbaren Unwirklichkeits-Detektor aus der Tasche. Auf der Anzeige erkenne ich eine Quelle erhöhter Irrealitätswerte und folge der Peilung. Sie führt mich zu einem Gebäude der Experimentalphysik.
Die Tür ist verschlossen, aber das ist kein Hindernis für einen Triple-X-Agenten. Drinnen leitet mich der Detektor in den ersten Stock, zu den Räumen ganz hinten im Gebäude. Dort steht eine Tür offen, und ich höre Stimmen.
Ein Blick in den Raum zeigt mir drei junge Männer vor einem kleinen Bildschirm, auf dem schemenhaft der Kampf unserer Kammerjäger gegen die Micky-Mäuse zu erkennen ist.
„Schade, gleich haben sie alle“, meint der eine der Zuseher. „Die Viecher waren lustig. Mal sehen, was als nächstes kommt.“
„Hoffentlich gar nichts“, sage ich. „Macht das Gerät aus.“
Die drei zucken zusammen, und einer schaltet reflexartig den Monitor ab.
„Ich meine nicht euer Privatfernsehen, sondern den Realitätshobel“, sage ich.
„Wer sind Sie überhaupt?“ kommt eine nicht unberechtigte Frage.
„Amt für Wirklichkeitsschutz“, verkünde ich und zeige meinen Ausweis. „Und jetzt deaktivieren Sie den Hobel.“
Ich zeige auf das Gerät, das auf einem Regal steht und auf ungesunde Weise vor sich hin flimmert. Es hat wesentlich unschärfere Konturen als einem real existierenden Objekt zugestanden werden dürften.
„Ausmachen geht nicht“, sagt einer der drei. Er sieht den Ausdruck in meinen Augen und setzt hastig hinzu: „Ernsthaft, es geht nicht. Unmöglich. Wir haben es auch schon versucht, aber ... äh ... als wir den Schalter drücken wollten, war er nicht mehr da, das Gerät verändert sich irgendwie dauernd. Dann haben wir den Netzstecker gezogen, aber das hat gar nichts bewirkt. Es läuft einfach weiter. Wir haben sogar Kaffee reingegossen, und wir wollten es aus dem Fenster werfen, aber...“
„Ich fasse das nicht an“, erklärt ein anderer der drei.
„Das wäre auch keine gute Idee“, sage ich trocken. „Habt ihr überhaupt eine Ahnung, womit ihr da rumspielt?“
„Nicht wirklich“, gibt einer zu. „Das Teil lag halb fertig in einem Schrank, mit den Schaltplänen daneben, und wir haben es fertiggebaut, und etwas getunt, für mehr Reichweite und so...“
„Es ist ein Realitätshobel“, erkläre ich. Und die Pläne dazu stammen von mir, aber das müssen die drei nicht wissen. „Er ist gerade dabei, einen Teil der Wirklichkeit abzuschälen, und wenn der Span endgültig abreißt, werden etwa zwölf Prozent der Realität dieser Stadt in unumkehrbare Unerklärlichkeit übergehen.“
Ich bekomme den üblichen Chor von ‘Das wusste ich nicht’ und ‘Das haben wir nicht gewollt’.
„Wir müssen das Teil schleunigst abschalten, dann wird sich die Realität schnell wieder angleichen“, erkläre ich. „Nur habt ihr es versäumt, eine ordentliche Steuerung einzubauen, oder selbst eine unordentliche, und deshalb hat es sich selbst in eine Unmöglichkeitsschleife versetzt. Das wiederum heißt, dass für den Apparat jeder Zustand unmöglich ist. Er nimmt also einen Zustand an, der unmöglich ist, daher geht er in einen anderen über, der ist aber auch unmöglich, und so weiter. Deshalb flimmert er, und deshalb haben wir keine Kontrolle.“
Die Jungs nicken. Ich denke nicht, dass sie wirklich etwas begriffen haben, aber ich bin auch nicht hier, um eine Vorlesung über Unmöglichkeitsphysik zu halten.
„Aber was machen wir dann? Wenn es unmöglich ist, ihn lange genug in einem Zustand festzuhalten, um ihn abzuschalten oder zu zerstören oder was auch immer? Wenn das alles unmöglich ist...“, fragt einer, der offensichtlich doch den Kern des Problems verstanden hat.
„Ist es. Objektiv unmöglich. Aber es gibt Tage, da habe ich schon vor dem Frühstück drei unmögliche Dinge getan. Also denke ich, ich werde Unmöglichkeit mit Unmöglichkeit bekämpfen und ein Negaton einfangen. Wenn ich es an der richtigen Stelle in das System einführe, sollte es das Problem lösen.“
Mit dieser Erklärung stelle ich meinen Detektor auf Negatonen um und entdecke auch sofort zwei davon – keine Überraschung, jeder mittelgroße Raum enthält mindestens eines. Es macht auch keine Mühe, sie mit einer Unwahrscheinlichkeitszange einzufangen. Vorsichtig bugsiere ich sie in Richtung Hobel.
„Was ist ein Negaton?“ fragt einer der Studenten.
„Ein Partikel negativer Wirklichkeit. In seinem Umkreis wird die Realität vollkommen umgekehrt. Die Reichweite beträgt aber nur wenige Zehntelmillimeter.“
„Und wenn das Negaton in das Dingsda kommt? Werden dann unmögliche Zustände zu möglichen, und wir haben wieder Kontrolle?“
„Nicht direkt“, gebe ich zu. „Tretet besser ein paar Schritte zurück... Nein, die Zustände werden unmöglich-unmöglich – das ist ein doppelt negativer Zustand, und der ist undefiniert. Und das bedeutet ...“ – ich schubse die Negatonen in den Realitätshobel – „... das Objekt weiß keinen anderen Ausweg, als nicht mehr zu existieren.“
Zing! Ein negativer Knall, der alle Geräusche aus unseren Ohren zieht, und ein Blitz aus reiner Dunkelheit. Dann geht das Licht aus, das richtige, elektrische, und es riecht verschmort. Der Hobel ist verschwunden. Sehr schön. Ich lasse noch schnell die Schaltpläne mitgehen, die auf einem Bord liegen, und überlasse den dreien die Aufgabe, dem Hausmeister zu erklären, wie sie es geschafft haben, sämtliche Sicherungen des Gebäudes zu zerstören.

Draußen ist die Wirklichkeit wieder die, die sie war. Eine letzte Messung zeigt mir, dass die Turbulenzen schnell abklingen. Schade eigentlich, denke ich, aber andererseits dauert die Ruhe immer nur bis zum nächsten Einsatz.

© P. Warmann