Kottalam.

„... Geschicklichkeit und Können, ein Wirbel von Farben und auch ein Hauch von Gefahr“, höre ich Caris sagen, und Nora Barolli fängt die bunten Bälle, die sie und ihr Ehemann sich eben noch zugeworfen haben. Während sie sie in einem Korb verschwinden lässt, entzündet er drei kleine Fackeln in einer Feuerschale, wirft sie hoch, fängt sie auf und lässt sie vor sich kreisen.
Das Publikum macht „Ah!“, Viktor Caris lächelt zufrieden und weist auf mich. „Und hier, aus dem Gewürzland des Südens, direkt aus dem fernen Kottalam, der Geheimnisvolle Alayar!“
Ich verneige mich, lächle möglichst geheimnisvoll und versuche so exotisch auszusehen wie Caris mich ankündigt. Offensichtlich gelingt mir das: Mit meinen offenen langen Haaren und der mitternachtsblauen Robe mit dem steifen Kragen, den weiten Ärmeln und den ausgesprochen mystisch aussehenden (aber tatsächlich völlig bedeutungslosen) Stickereien in gelber Seide wirke ich wie ein Pfau unter Hühnern. Hier in Gudenhaven trägt der Bürger Grau und die Haare kurz.
Ich mache eine weit ausholende Geste und lasse dabei unauffällig ein Kügelchen aus mineralischen (und ziemlich teuren) Salzen in die Feuerschale fallen. Eine rote Flamme springt auf, dann ein leiser Knall, eine weiße Rauchwolke, und die Flamme wird grün. Staunende Gesichter ringsum – farbige Flammen erwartet man von einem Bühnenzauberer, aber das hier ist mindestens eine Klasse besser.
„Er wird Ihnen mit seinen unerklärlichen Kräften Wunder über Wunder zeigen“, fährt Caris fort, und ich male mit meiner Linken einen komplizierten Schnörkel in die Luft, wie jedes Mal, wenn wir uns in einer Stadt dem Publikum vorstellen ... und dann beginnt die Glyphe zu leuchten und zerfällt mit einem Funkeln wie Goldstaub, der sich in der Luft schwebend auflöst.
Das Publikum lässt beeindruckt ein „Oh!“ hören, aber ich bin eher erschrocken, denn das war nicht geplant und auch überhaupt nicht zu erwarten. Auch Caris starrt mich überrascht an, aber er ist ein Profi durch und durch, und seine Stimme kommt nicht ins Stocken, als er fortfährt: „... und er wird Sie verzaubern und in seinen Bann ziehen.“
Dann wendet er sich der nächsten Attraktion von ?Viktor Caris' größter Schau des Ostens und des Westens' zu und kündigt die Van-Doren-Brüder an – eigentlich sind es zwei Brüder und ein Cousin –, und während Benny Van Doren einen Handstand auf dem Kopf seines Bruders macht und die drei dann blitzschnell eine Pyramide bilden, lasse ich meinen Blick über das Publikum schweifen. Fast hundert Leute haben sich auf dem Platz vor dem Rathaus versammelt, um zu sehen, was Caris' berühmte Truppe ihnen zu bieten hat, hundert Menschen, die ich nicht kenne, aber der Mann, den ich suche, ist nicht darunter. Aber er muss hier sein, in der Menge, oder hinter der Menge, auf jeden Fall in der Nähe. Auf ihn hat meine Glyphe reagiert, und auch wenn ich nicht weiß, wer er ist, würde ich ihn sofort erkennen. Aber ich sehe ihn nicht.

Caris beendet die Vorstellung, und die Leute beginnen sich zu zerstreuen. Die anderen sammeln die Requisiten ein, aber ich habe nichts einzupacken, und gehe nachdenklich zu meinem Wagen zurück. Wir sind tatsächlich vom Rat der Stadt eingeladen worden, und daher hat man uns erlaubt, die Wagen hinter dem großen Ratssaal aufzustellen, der dem Rathaus gegenüber liegt und in dem wir auftreten werden.
Als ich meinen Wagen betrete, frage ich mich mich, ob ich besorgt sein sollte oder ob alles nur ein Zufall ist. Aber bemerkenswert ist es auf jeden Fall: Hier, in einer Stadt der verbündeten Königreiche der Alten und der Neuen Welt, webt jemand echte Magie. Und das, obwohl jede Art von Magie – außer Heilung – in den Reichen des Nordens seit dreihundert Jahren verboten ist ... und dieses Verbot wird sehr ernst genommen.
Dann schiebe ich den Gedanken zur Seite. Ich will mich nicht ablenken lassen, denn die Vorstellung heute Abend ist eine ganz besondere, und von ihr hängt eine Menge ab. Energisch werfe ich die Robe auf mein Bett. Ich habe sie gerade zum letzten Mal getragen, entscheide ich, und sie kann sich jetzt auf eine zweite Karriere als Putzlumpen vorbereiten. Dann ziehe ich einen Gehrock über, der nach der gewöhnlichen Mode der Küstenstädte geschnitten ist, und binde die halbe Länge meiner Haare zu einem Knoten. Ich habe keine Lust darauf, dass der erste Windstoß mich in vier Ellen Haar wickelt.

Ich mache mich auf den Weg zu Caris, denn ich möchte mit ihm ein paar Kleinigkeiten meinen Auftritt heute Abend betreffend besprechen. Unsere sechs Wagen, die der Artisten, stehen säuberlich in zwei Reihen, und Caris' Direktionswagen schließt diese Gasse ab. Als ich mich ihm nähere, höre ich eine laute Stimme, die ich nicht kenne. Der Unbekannte sagt: „Ach was, erzählt mir nichts von Kottalam! Ich weiß nicht, wo Ihr euren langhaarigen Scharlatan aufgesammelt habt, aber sicher nicht dort. Und überhaupt, wie Ihr wisst, verlassen die Dettatreya ihr Land niemals. Also lasst Ihr besser solche Ankündigungen.“
„Verehrter Ratsherr Morgan, ich versichere euch...“ – das ist die Stimme von Caris, beherrscht und bemüht freundlich, aber ich höre die Wut dahinter.
„Ach, spart Euch das. Wir sehen uns dann heute Abend.“
Sich entfernende Schritte, und dann kommt Caris um den Wagen und sieht mich.
„Wer war das?“ frage ich.
Er winkt ab. „Das war Ratsherr Morgan. Er treibt Handel mit Kottalam, und natürlich kennt er dieses Land wie kein anderer. Daher meint er, einen Fehler in meiner Ansage gefunden zu haben und mich korrigieren zu müssen. Du kennst diese Typen.“ Er sieht düster drein, aber dann hellt sich seine Miene auf. „Ach was, vergiss ihn. Bist du gekommen, um die deine Gage für den Monat abzuholen? Komm rein.“
Er schließt den Wagen auf und lässt mich hinein. Ich lehne mich gegen die Fensterbank und sehe ihm zu, wie er in die Knie geht und den Schrank öffnet, in dem sich der Geldkasten verbirgt – aus schwerem Eisenblech und fest mit dem Wagenboden verschraubt.
Hier drinnen fühlt man sich wie im Kontor eines wohlhabenden Händlers: ein großer Schreibtisch, Wandschränke mit polierten Messinggriffen, auf dem Tisch Feder und Tinte und ein Kontorbuch. Nur sind hier alle Möbel unverrückbar in den Wagen eingebaut. Wir anderen wohnen in unseren Wagen, aber obwohl man auch hier mit wenigen Handgriffen ein Bett ausklappen kann, gönnt Caris sich den Luxus, sich wann immer möglich ein Zimmer in einem Gasthof zu nehmen.
Jetzt holt er einen Beutel mit Silber aus dem Kasten und zählt das Geld auf den Tisch.
„Wie steht es um unsere Geschäfte?“ frage ich.
„Oh, gut.“ Er sieht auf und lächelt. „Sehr gut sogar. Für die ersten acht Tage sind wir ausverkauft, für die zweite Woche sieht es genauso aus, und ich rechne auch noch mit einer dritten Woche, vielleicht sogar mit mehr. Die Leute hier sind ausgehungert nach einer Schau wie unserer – du weißt, sie haben uns sogar eingeladen. Vielleicht erinnerst du dich, vor zwei Jahren konnten wir hier nicht auftreten, weil die halbe Stadt abgebrannt war, und im letzten Jahr hatten sie hier nur Schauspiele: Komödien, Tragödien, Puppenspiele, Bauernpossen, dramatische Gedichte und sogar ein Zaubermärchen mit Gesang. Alle freuen sich darauf, endlich einmal etwas anderes zu sehen.“
Er schiebt mir das Geld herüber, und ich streiche es ein, was meinen Beutel merklich schwerer werden lässt.
„Ich möchte dich etwas fragen“, sagt Caris und sieht ernst aus, was gar nicht zu ihm passt. Er ist ein kleiner Mann, vom Alter näher an 50 als an 40, und seine Haare waren einst von einem feurigen Rotblond, aber jetzt haben sie eine Farbe, für die zumindest mir kein Name einfällt. Er ist als junger Bursche in die Neue Welt gekommen, um hier sein Glück zu machen, war Lehrling bei einem Wagenbauer, ist dann zum Zirkus gekommen, war Seiltänzer und hat sich schließlich seine eigene Schau aufgebaut, die sicherlich die beste ist, die man in der Neuen Welt finden kann. Ich bin jetzt in der dritten Saison bei ihm unter Vertrag, und wir sind fast so etwas wie Freunde.
„Wenn ich dich ankündige“, fährt er fort, „sage ich immer, du kämst aus Kottalam, weil Kottalam eben der geheimnisvolle Süden ist, das Land der Magier ... aber wenn dir das nicht recht ist, kann ich mir auch etwas anderes ausdenken...“
„Du fragst dich, ob ich wirklich aus Kottalam komme?“
Er fühlt sich sichtlich unwohl. „Als wir uns trafen, sagtest du, du kämst von den Inseln...“
„Ich habe einige Zeit dort gelebt, ja. Aber ursprünglich stamme ich vom Festland. Aus Kottalam? Das kommt darauf an, wen du fragst.“
Ich trete vor die Karte, die er an der Wand hängen hat, ein wundervoller Kupferstich der ganzen bekannten Welt. Mein Finger berührt einen Punkt. „Hier sind wir, in Gudenhaven, fast am südlichen Ende der Küste des Nordteils der Neuen Welt. Hier drüben ...“, ich ziehe meinen Finger über den Weiten Ozean, nach Osten und Süden, über die Inseln hinweg, bis zur Küste des großen südlichen Erdteils und ein wenig landeinwärts, „... hier bin ich geboren. Ein Kottani würde es eine der Nordostprovinzen nennen, Alamusatrivan, das Land der drei Edelsteine. Ich würde sagen, es heißt Dust Khanar, was das gleiche bedeutet.“
Caris sieht mich aufmerksam an – wir haben noch nie über meine Herkunft gesprochen.
Ich ziehe nachdenklich einen Kreis auf der Karte. „Es ist ein schönes Land, fruchtbar und wohlhabend, und in den Bergen findet man Gold und Edelsteine. Es zieht sich von den Bergen der Westlichen Kette ins Inland bis zum großen Fluss Magara, also bis zur Grenze zu Vaschischt.
Vor zweihundert Jahren war das noch ein eigenes Königreich, dann haben die Herrscher von Kottalam es geschafft, die gesamte Königsfamilie vergiften zu lassen, und Dust Khanar übernommen.“
Caris runzelt die Stirn, aber ich schüttle den Kopf. „Nein, das ist keine Geschichte von Blut und Rache. Die Kottani haben ein Sprichwort: ’Es ist leicht, ein Land zu erobern, aber schwer, es zu halten’. Sie sind inzwischen sehr gut darin, ein Land zu halten. Sie haben einige Fürstenfamilien ausgelöscht, die sich ihnen widersetzt haben, und alle Vorkommen von Gold und Edelsteinen sind jetzt persönliches Eigentum der Könige von Kottalam, aber ansonsten geht es den Menschen nicht schlechter als vorher. Wir müssen uns damit abfinden, dass es einen Statthalter gibt – inzwischen nennt er sich Fürst –, und es gelten die kottanischen Gesetze, aber damit lässt sich leben. Also kannst du mit gutem Grund behaupten, dein ’langhaariger Scharlatan’ käme aus Kottalam.“
„Hast du mitgehört, dass er dich so genannt hat? Das tut mir leid.“
„Dafür musst du dich doch nicht entschuldigen. Und was das angeht, zu ?langhaarig’ stehe ich, und ?Scharlatan’ ... wahrscheinlich ist es besser, ich werde so genannt und nicht das Gegenteil.“
Caris nickt und sieht besorgt aus. „Ich habe das nie angesprochen, aber ich weiß, dass du nicht alles nur mit Pülverchen und geschickten Händen machst. Bis jetzt habe ich mich damit beruhigt, dass ich ja nicht erkennen kann, ob bei dir verbotene Kräfte im Spiel sind, und wenn jemals ein Heiler etwas bemerkt haben sollte, dann hat er sich zumindest nicht beschwert. Ich dachte, sie sehen es wie einen Bäcker, der seinen Ofen mit einem Feuerfunken anzündet: Solange die Magie auf der Bühne bleibt, ist es egal. Aber jetzt muss ich es fragen: Du bist bis zu einem gewissen Punkt echt, oder?“
„Ja“, sage ich ruhig. „Aber es sind nur Illusionen und ein paar andere Kleinigkeiten – nichts mit Wirkung. Und es bleibt auf der Bühne.“
„Gut“, sagt Caris, „belassen wir es dabei. Wolltest du sonst noch etwas von mir?“
„Ja“, sage ich, und dann besprechen wir Dinge, die die Premierenvorstellung betreffen.
„Übrigens“, sage ich schließlich, „ich werde ab heute Abend in einem anderen Kostüm auftreten. Die Robe hat ausgedient – ich kam mir darin inzwischen zu sehr wie ein ... nun ja, Scharlatan vor. Ich habe mir eine Jacke schneidern lassen, im Stil des Südens, die werde ich tragen.“
„Ich vertraue auf dein Stilgefühl“, sagt Caris mit einem Lächeln, „aber ich hoffe, sie sieht angemessen exotisch aus.“
„Oh, ganz sicher. Mein Schneider hat sich fast geweigert, sie zu nähen – er fand, perlgraue Glanzseide wäre nur etwas für die Abendkleidung von Damen.“
Wir müssen beide lachen, und ich verabschiede mich, aber dann hält er mich noch einmal zurück: „Warte bitte. Ratsherr Morgan sagte etwas über Detta... – wie hat er sie noch genannt? – und dass sie das Land nicht verlassen dürfen. Weißt du, was das bedeutet?“
„Ja. Die Dettatreya sind die Magiergilde von Kottalam. Du darfst da drüben keine Magie wirken, wenn du nicht zu ihnen gehörst – du darfst nicht einmal etwas über Magie wissen. Sie sind genau wie die Kaufmannsgilden hier organisiert, mit einem Gildenobersten, der gewählt wird, und eigenen Regeln und Gesetzen.“ Ich sehe Caris ernst an. „Wir wissen genauso wie ihr, wie gefährlich unkontrollierte Magie sein kann. Ihr habt sie vollständig verboten, wir lassen sie zu, aber nur unter der Kontrolle von Meistern und im Rahmen von Regeln.“
„Und wieso dürfen sie Kottalam nicht verlassen?“
„Ihr Oberherr ist der König“, sage ich. „Ihm haben sie Gehorsam geschworen, und er möchte ganz sicher nicht, dass seine ausgebildeten Magier das Land verlassen und womöglich für seine Feinde arbeiten.“
„Aber du bist hier...“
„Ich bin kein Dettatreya“, sage ich. „Ich bin keiner und war es nie.“
Dann gehe ich und wende mich in Richtung Stadt, um ein paar Einkäufe zu machen. Aber, denke ich, als ich den Rathausplatz überquere, ja, ich bin kein Dettatreya, aber einer von ihnen ist in der Stadt, und er spielt mit Magie herum. Ich frage mich, ob ich mir Sorgen machen müsste.

Als ich in Richtung auf den belebten Markt gehe, vergesse ich meine düsteren Gedanken. Gudenhaven ist eine große Stadt, sie hat mehr als zwanzigtausend Einwohner, die größte Stadt an der südlichen Küste und die zweitgrößte in der ganzen Neuen Welt. Südlich von hier gibt es nichts mehr: keine Häfen, nur noch eine weite sandige Küste mit riesigen Dünen dahinter, bis hinunter zu der gewaltigen Bucht, die man den Axthieb nennt und die den nördlichen Teil der Neuen Welt vom südlichen trennt.
Die Stadt allerdings ist auf Felsen gebaut, auf einer Landzunge, die sich wie ein Haken ins Meer schiebt und mit ihrer Krümmung einen ausgezeichneten Hafen umschließt. Dort liegt er geschützt gegen die schlimmsten Stürme und gegen den Sand, den die Strömung von Süden heranführt.
Ich schlendere weiter und freue mich an einem der ersten wirklich warmen Tage des Frühjahrs. Den meisten anderen Menschen hier geht es offensichtlich genauso – ich sehe viele Männer ohne Hut, und viele Frauen haben schon ihre bunten Sommerkleider aus dem Schrank geholt. Oder was man hier ?bunt’ nennt – Kleider in Hellblau, Gelb oder blassem Grün, kein Vergleich zu den Rangis der Frauen in meiner Heimat, denke ich mit einem Lächeln, bei deren Anblick der durchschnittliche Papagei vor Neid erblasst vom Baum fallen würde.
Der Markt ist gut bestückt. Ich suche mir meinen Weg an Ständen vorbei, die das erste frische Gemüse anbieten, lebende Hummer, gerupfte Hühner, Essig aus großen Glasflaschen, Korbwaren oder aus der Alten Welt importierte Messer und Scheren. Dann finde ich einen Händler, der mir sechs Ellen von dem Samtband verkauft, mit dem ich meine Haare binde.
Während ich über den Markt schlendere, höre ich überall die Leute von dem großen Ereignis heute Nacht sprechen: von der Mondfinsternis. Ganz besonders, weil sie in einer Nacht stattfindet, in der der grüne Stern so hell strahlen wird wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Die Dusen glauben – und sie haben diesen Glauben auch in die Neue Welt mitgebracht –, dass eine Liebe, die man sich im Schein des grünen Sterns gesteht, immer frisch bleiben wird ... und während einer Mondfinsternis ist das natürlich doppelt romantisch. Ganz offensichtlich haben eine Menge junger Leute für heute Abend ein Verabredung.

Ich kaufe mir ein Körbchen mit frischen Erdbeeren, lehne mich gegen eine Mauer und sehe auf den Hafen unter mir und, jenseits davon, das Meer. Es ist schon seltsam, denke ich, als ich meinen Blick schweifen lasse über den Markt, die stattlichen drei- und vierstöckigen Häuser, die ihn umgeben, die Gasthöfe und Schiffsausrüster an der Straße, die zum Hafen hinunter führt, und über die Schiffe und die Lagerhäuser, wirklich seltsam, wie sich die Dinge in den letzten 150 Jahren entwickelt haben. Kaum vorstellbar, dass wir Menschen drüben in der Alten Welt damals noch überhaupt keine Ahnung hatten, dass es diese Küste überhaupt gab. Nicht diese Küste und nicht diesen Erdteil.
Damals war die Welt ganz einfach: Sie war eine Scheibe, in deren Mitte alles Land lag, umgeben von einem Ozean, der bis zum Rand der Welt reichte. Dann kamen zwei Gelehrte aus dem Norden daher und bewiesen uns, dass wir damit völlig falsch lagen: In Wirklichkeit ist die Erde eine Kugel.
Zuerst änderte sich dadurch nicht wirklich viel. Dieselben Länder lagen immer noch an denselben Stellen, und man musste auf denselben Wegen reisen, um sie zu erreichen. Andererseits waren alle in gewisser Weise stolz darauf, jetzt zu wissen, dass wir auf einer Kugel leben. Die Sache mit der Scheibe hatte sich schon immer etwas seltsam angefühlt, und ich glaube, überall auf der Welt stellte man sich dieselben Fragen: Warum hatte niemand je den Rand der Welt gesehen? Wenn der umgebende Ozean wirklich bis zum Rand reichte, warum floss er dann nicht über? Und vor allem, was war auf der Unterseite? Aber jetzt zu wissen, dass die Erde eine Kugel war, der volkommenste aller Körper, die unbeweglich in der Mitte des Universums schwebte, während sich Sonne, Mond und alle Sterne um sie drehten – das war eine erhabene Vorstellung.
Aber wie gesagt, davon abgesehen änderte sich für uns zuerst nichts. Und wenn man es genau betrachtet, hat sich in der Alten Welt – dem uns damals bekannten Teil der Welt – auch bis heute nicht viel geändert. Man könnte eine zweihundert Jahre alte Karte heute noch immer benutzen – ein paar Grenzen haben sich verschoben, das ist alles.
Heute wie damals, und tatsächlich seit über zweitausend Jahren, ist die Alte Welt von Nord nach Süd in drei Machtblöcke geteilt – und dann gibt es da natürlich noch den geheimnisvollen Fernen Osten.
Ich nehme mir noch eine Erdbeere und sehe nachdenklich auf die Schiffe unter mir, die im Hafen liegen, dicht an dicht. Überall schleppen Männer Säcke an Bord und rollen Fässer, um die Schiffe mit den Gütern der Neuen Welt zu beladen, und die Seeleute überprüfen die Ausrüstung, und hier und da malt noch jemand den Schiffsnamen in frischer Farbe nach. Jetzt, wo die Jahreszeit der Stürme vorbei ist, warten sie auf das Aufkommen der Westwinde, die sie über den westlichen Ozean in die Alte Welt treiben werden, zu den Inseln und in die Häfen Kottalams, oder in den Norden.
Die Menschen haben schon immer Handel miteinander getrieben, und die drei Machtblöcke der Alten Welt waren nie miteinander verfeindet oder haben sich streng voneinander abgeschottet. Die Schiffe aller Länder sind in allen Häfen willkommen … mit gewissen Ausnahmen.
Andererseits grenzt man sich schon gegeneinander ab, was Sprache, Lebensweise, Gesetze und die Art der Herrschaft angeht – und die Einstellung gegenüber der Magie.
Der Norden hat den Umgang mit Magie schon vor dreihundert Jahren verboten, nach den Kämpfen der Magierfürsten, die dort weite Landstriche verändert haben, worunter die Menschen dort noch immer leiden. Nur Heilmagie ist im Norden noch erlaubt.
Der Norden, das sind die Hundert Reiche, die sich von den eisigen Gewässern des Nordmeers bis zur Inneren See im Süden erstrecken und vom Westlichen Ozean bis dorthin, wo die nördlichsten Ausläufer der Mauer der Welt auf das Östliche Eismeer treffen. Das mächtigste dieser Reiche ist das Vereinte Königreich der Dusen, daneben gibt es das Reich von Borgünd, das der Welfen und dazu Dutzende von kleinen und großen Fürstentümern und die freien Städte.
Südlich und östlich der Inneren See liegt das, was sich immer noch das Reich von Akkade nennt, obwohl der König der Könige, wie sich ihr Herrscher nennt, schon seit Jahrhunderten keine echte Macht mehr hat. Die reichen und mächtigen Handelsstädte dort haben ihre eigenen Herrscher und geben sich ihre eigenen Gesetze, obwohl sie immer noch der Form halber dem Herrn von Akkade die Treue schwören. Ich muss lächeln, als ich mich daran erinnere, wie ich als Junge die alten Karte meines Vaters studiert und die geheimnisvollen Namen darauf gelesen habe: Raksch und Atuine und die Messingstadt, berühmte Häfen und von weißen Mauern umgebene Städte an der fruchtbaren Südküste der Inneren See. Und am östlichen Ende der Inneren See liegt das mächtige Vierstromland mit seinen alten, alten Städten mit Namen wie Zur, Urukar und En-arsa, und nördlich davon Akkade selbst und das Bergland der Paschmiri. Nach Osten grenzt dieser mittlere Machtblock an die Mauer der Welt, das gewaltige von Nord nach Süd laufenden Gebirge, über das keine Pässe führen, und wenn man von der Südküste der Inneren See nach Süden landeinwärts reist, beginnt gleich hinter dem Küstengebirge die gewaltige Leere Wüste. Nur wenige Wege führen hindurch, und sie werden kaum benutzt, denn den Tiefen Süden erreicht man viel einfacher auf dem Seeweg.
Der südliche Erdteil jenseits der Leeren Wüste – meine Heimat – hat mehr oder weniger die Form eines Dreiecks, mit einem breiten Ansatz im Norden und seiner Spitze im Perlenkap im Süden. Ihn teilen sich die beiden großen Königreiche Kottalam und Vaschischt – die Grenze zwischen den beiden Reichen verläuft nord-südlich, etwas östlich der Mitte. Das bedeutet natürlich, dass die Westküste zu Kottalam gehört und die Ostküste zu Vaschischt.
Ja, die Ostküste. Schon als wir noch dachten, die Erde wäre eine Scheibe, wussten wir, dass es nicht nur einen westlichen Ozean gibt, sondern auch einen östlichen. Wenn man auf ihm nach Osten segelt, so heißt es, dann erreicht man die Gewürzinseln und andere geheimnisvolle Länder und schließlich, weit im Osten, das Land der Serer, das Seidenland. Schiffe aus Vaschischt nehmen regelmäßig diesen Weg und kommen mit Schätzen beladen zurück.
Man kann das Seidenland auch auf dem Landweg erreichen, und die Händler aus Akkade ziehen mit ihren Karawanen an den südlichen Ausläufern der Mauer der Welt vorbei in den Osten. Dort, hinter den Bergen, liegen weite Steppen mit unvorstellbar reichen Städten, die mit dem König der Könige verbündet sind, und dort kaufen die Akkader die Schätze aus den Ländern des Osten und bringen sie in die Häfen an der Inneren See.
Jedenfalls erzählt man sich das – noch nie war ein Händler aus dem Norden oder aus Kottalam in einem dieser fernen Länder. Wir kennen nur ihre Waren: Gewürze, Lackdosen, unvorstellbar fein geschnitzte Kämme aus duftendem Holz und natürlich Seide. Wundervolle Dinge, und sehr teuer. Die Händlern aus Akkade und Vaschischt sind die einzigen, die sie anbieten können, und sie setzen die Preise entsprechend.
Ja, natürlich haben Kaufleute aus anderen Ländern versucht, die Länder des Fernen Ostens selbst zu erreichen, aber die Akkader versperren die Landwege, und die Schiffe von Vaschischt beherrschen das Ostmeer. Dusische (und kottanische) Schiffe, die das Perlenkap heimlich umsegelt haben, kamen nie wieder zurück. Ihre Besatzungen schon – in Ketten und gegen ein hohes Lösegeld.

So also sah die Welt seit Jahrhunderten aus, und wie gesagt, die Erkenntnis, dass die Erde eine Kugel ist, änderte zuerst nichts daran. Dann aber dachte ein Gelehrter gründlich über alles nach, und plötzlich kam ihm ein Gedanke: Wenn die Erde eine Kugel ist, dann gibt es keine zwei Ozeane, einen westlichen und einen östlichen, sondern sie sind ein einziges Meer, das sich einmal um die ganze Welt spannt. Man müsste also nur nach Westen segeln, immer weiter nach Westen, und könnte so den Fernen Osten von Osten her erreichen. (Eine der verwirrendsten Folgen der Erkenntnis, dass die Erde eine Kugel ist, war, dass Osten und Westen plötzlich davon abhingen, wo man stand, während Norden und Süden immer noch zwei feste Punkte oben und unten auf der Kugel waren. Letzteres, sagen die Gelehrten, liefert auch endlich eine Begründung dafür, dass sich eine Kompassnadel unbeirrbar nord-südlich ausrichtet.)
Zuerst löste diese neue Idee, den Osten durch eine Fahrt nach Westen zu erreichen, natürlich eine gewaltige Begeisterung aus – bis die Gelehrten uns erklärten, wie weit der Weg dorthin wäre. Danach war klar, dass jeder, der es versuchte, in den Weiten des Weltmeeres umkommen musste.
Aber das hielt natürlich die Menschen nicht davon ab, es trotzdem zu versuchen. Schließlich konnte man ja nicht wissen, ob nicht Inseln auf dem Weg lagen, oder vielleicht reichte ein äußerster Zipfel des Ostlandes auch weit in unsere Richtung. Den Rest der Geschichte kennt jedes Kind: Wie Knut Larsson Björgen mit drei Schiffen aufbrach, um es zu versuchen, wie sie den Punkt erreichten, wo sie hätten umkehren müssen, wie Björgen seine Männer überredete, noch drei Tage weiter zu segeln, und wie sie am zweiten Tag Land sichteten. Sie hatten die Neue Welt entdeckt.
Dummerweise brachte uns das dem Fernen Osten aber nicht näher. Hier sitzen wir nun, wir Menschen aus der Alten Welt, haben Städte gebaut und Häfen angelegt und ein blühendes neues Reich errichtet, aber der Weg in den Osten ist uns immer noch versperrt. Das Abkommen mit den Menschen dieses Erdteils gibt uns nur das Recht, im Land zwischen der Ostküste und dem großen Strom, den sie die Mutter aller Wasser nennen, zu siedeln. Das Land westlich davon, und damit der Weg zur Westküste, ist uns verschlossen – und die Menschen, die dort herrschen, haben die Macht und die Magie, das auch durchzusetzen.
Nach Süden zu segeln nützt auch nichts: Die Südspitze dieses Erdteils reicht viel weiter nach Süden als das Perlenkap, in kalte Gewässer voll treibendem Eis und widriger Winde. Und die große Bucht, der Axthieb, die den nördlichen vom südlichen Teil der Neuen Welt trennt, endet in schlammigen Gewässern, wo Bäume aus dem Meer wachsen und weder mit Booten noch zu Fuß ein Durchkommen ist.
Aber, denke ich, irgendwann werden wir einen Weg finden. Menschen haben sich durch Hindernisse nie lange aufhalten lassen, und bis dahin können wir uns zumindest daran erfreuen, dieses schöne Land gefunden zu haben, mit all seinen Möglichkeiten.

Ich verputze meine letzte Erdbeere und nehme den Weg hinunter zum Hafen und in den tiefer liegenden, älteren Teil von Gudenhaven. Hier sind die Häuser älter und niedriger und die Straßen enger. Und hier … es ist seltsam, aber ich habe das Gefühl, dass Magie über diesem Teil der Stadt liegt. Dabei kann das nicht sein: Wie in den Ländern des Nordens ist auch hier im Westlichen Königreich jede Magie, außer Heilung, verboten. Aber dennoch … doch, es gibt hier Magie. Sie entfaltet keine Wirkung, sie ist passiv, ruhend, aber sie ist mächtig. Und es ist Dettatreya-Magie. Hier? Und wozu soll sie dienen?
Ich sehe mich um. Wo ist die Quelle des Zaubers? Er wirkt ausgebreitet, dünn, wie ein Schleier, der über diese ganze Gegend geworfen wurde. Gibt es denn keinen Punkt, an dem diese Magie zu fassen wäre? Und dann sehe ich es.
Es wirkt nur wie ein zufälliger Schnörkel, mit weißer Farbe auf die Wand eines Schuppens gemalt, aber ich erkenne es sofort als das, was es ist: ein Ankerpunkt für ein Netz aus Magie. Es gibt noch mehr davon – ich kann sie überall an den Häusern sehen, jetzt, wo ich weiß, worauf ich achten muss. Ich überlege. Sollte ich irgend etwas unternehmen? Nein, entscheide ich. Das hier ist nur passive Magie, die niemandem schaden wird, und außerdem müsste ich erklären, warum ich diesen Zauber überhaupt erkennen kann. Und ich möchte weder den Dettatreya noch den Magistrat der Stadt darauf aufmerksam machen, dass ich mehr bin als ein Bühnenzauberer.

Also schlendere ich weiter, betrachte das Treiben im Hafen und versuche, nicht von Säcke schleppenden und Fässer rollenden Schauerleuten umgerannt zu werden. Schließlich meldet sich mein Magen. Es ist Mittagszeit, und die Erdbeeren haben micht nicht satt gemacht. Bei einem Bäcker, der vor seinem Laden ein paar Tische aufgestellt hat, kaufe ich mir einen großen Laugenbrezel und ein Glas Buttermilch.
Während ich esse, höre ich das Gespräch der beiden Männer, die am Nachbartisch stehen. Sie trinken Tee, und nach ihren dicken Pullovern und den Mützen sind es Fischer.
„... das ist wirklich ein schrecklicher Tod – aufgefressen zu werden...“, sagt der eine bedrückt.
„Nein, nein, daran ist er nicht gestorben“, wehrt der andere ab. „Da war er schon tot. Seine Schwiegertochter hat ihn gefunden, sie ging ihn suchen, als er nicht zum Essen kam. Sie fand ihn unten am Strand, in der Sandbucht. Er muss da schon seit gestern Abend gelegen haben – er hatte die Hummerkörbe schon ins Boot gelegt, und dann muss ihm schlecht geworden sein. Er hat sich neben das Boot in den Sand gesetzt, und da ist er gestorben. Das Herz, sagt der Heiler.“
„Ja, damit hatte er schon eine ganze Weile zu tun. Aber wie konnte die Glotzköpfe zu ihm kommen? Die gehen doch nicht an Land.“
„Er hat wohl die ganze Nacht dort gelegen, und als die Flut kam, ging das Wasser bis an seine Beine. Da haben die Glotzköpfe ihn dann gefunden...“
Die beiden schweigen, und ich muss schaudern. Glotzköpfe sind Fische, klein, nur so groß wie meine Hand. Sie haben nur einen winzigen Körper, aber einen riesigen Kopf mit einem großen Maul und vielen spitzen Zähnen und fressen alles, das nicht schnell genug vor ihnen wegschwimmt. Da sie allerdings eher langsam sind, bedeutet das, sie leben normalerweise von Aas.
„Ist schon eine merkwürdige Sache mit den Glotzköpfen“, sagt jetzt der eine der Fischer nachdenklich. „Sonst hat man nur dann und wann mal einen im Netzt, aber jetzt ist es manchmal fast ein Dutzend. Sie ruinieren dir den halben Fang, und ich mag schon gar nicht mehr ins Netz greifen, dann habe ich gleich einen am Finger hängen.“
„Ich sage dir, die Natur spielt verrückt“, sagt der andere mit Nachdruck. „Vorgestern habe ich ganz nahe vor der Küste vier Meerechsen gesehen. Vier Stück! Sonst sieht man manchmal jahrelang keine, höchstens manchmal eine, weit draußen, und jetzt plötzlich vier Stück. Die ganze Natur ist durcheinander, das sage ich dir. Es muss am grünen Stern liegen. Hast du ihn jemals so hell scheinen gesehen?“
Der andere schüttelt den Kopf. „Und heute ist auch noch eine Mondfinsternis. Eins kommt zum anderen.“

Das ist der Moment, wo es in meinem Kopf zu ticken beginnt. Es ist, als wenn irgendwo tief drinnen in meinen Erinnerungen etwas an eine Tür klopft, hinter der etwas liegt, das mit diesen Dingen zu tun hat. Meerechsen vor der Küste, Grüne Nächte, Glotzköpfe und eine Mondfinsternis … und ein Dettatreya, der ein La’am über diese Stadt legt.
Meerechsen, denke ich. Es heißt, sie sind die größten Tiere der Welt. Ich habe tatsächlich schon einmal eine gesehen, von dem Schiff aus, das mich von den Inseln hierher brachte. Sie war länger als das Schiff, und als sie uns mit ihren seltsamen blauen Augen betrachtete, standen wir ganz still und versuchten möglichst wenig nach Beute auszusehen. Wahrscheinlich dachten wir alle an Geschichten von Meerechsen, die Schiffe angegriffen und zertrümmert haben sollen. Diese hier sah uns nur an, zeigte uns ihre Zähne, zweihundert Stück, jeder so lang wie der Finger eines Mannes und so scharf wie ein Messer, und dann schwamm sie ihres Weges. Sie ließ uns sehr erleichtert zurück.
Sehr nachdenklich gehe ich wieder in Richtung Rathaus. Als ich an einem der Ankerpunkt vorbeikomme, bleibe ich stehen. Ich strecke meine Hand aus und zögere. Wenn ich das La’am berühre, werde ich den, der es geschaffen hat, auf mich aufmerksam machen – aber ich muss wissen, welche Art von Zauber das hier ist.
Ich berühre den Ankerpunkt, und das La’am entfaltet sich vor meinem inneren Auge. Ja, es ist das, was ich vermutet habe. Ich habe so ein Zeichen schon einmal gesehen, drüben in Kottalam, an der Küste – nicht genau das gleiche, aber ähnlich genug. Alle La’am sind unterschiedlich, weil sie an den Ort, ihren Urheber und den genauen Zweck angepasst werden müssen. Trotzdem, ich glaube jetzt, dass ich weiß, wozu dieses hier dienen soll. Aber das kann ich überprüfen: Ich habe Bücher dazu in meinem Wagen.

Zwei Stunden später, als Caris meinen Wagen betritt, sitze ich noch immer über meinen Büchern. Er sieht mir über die Schulter.
„Beschäftigst du dich mit der Mondfinsternis?“ fragt er. „Die Leute hier in der Stadt reden kaum noch von etwas anderem. Und, übrigens, du denkst doch daran, dass wir mit der Vorstellung heute eine Stunde eher beginnen? Alle wollen sich das Schauspiel am Himmel ansehen, und sie würden uns glatt aus der Vorstellung rennen, also sorgen wir dafür, dass wir vorher fertig sind, und alle sind zufrieden.“ Er lacht. „Oh, natürlich werde ich sie mir auch ansehen.“
„Ja, ich auch“, sage ich. „Übrigens, ich habe ein paar Berechnungen angestellt – wusstest du, dass es an dieser Küste seit fast zweihundert Jahren keine Mondfinsternis mehr gegeben hat, die in einen Frühling fiel, in dem der grüne Stern sehr hell war?“
„Im Ernst? Aber Mondfinsternisse sind doch gar nicht selten.“
„Ja, aber diese drei Voraussetzungen treffen offensichtlich nicht sehr oft zusammen. Und wusstest du, dass man in Kottalam eine solche Mondfnsternis für ein ganz besonders schlechtes Omen hält?“
Caris verdreht die Augen. „Oh, die Kottani sehen doch in allem ein Omen. Ein vorbeifliegender Vogel über die linke Schulter gesehen, ein Blatt, das dir in den Tee fällt, zwei Eulen auf einem Ast – und natürlich alles, was sich am Himmel abspielt. Ich kenne niemanden, der so abergläubisch ist wie die Kottani.“
„Und das sagt ein Mann, der vor jeder Vorstellung Salz auf der Bühne verstreut.“
„Salz reinigt, wie du weißt, und es vertreibt auch böse Einflüsse … ich lasse es jedenfalls nicht darauf ankommen.“ Er zeigt auf das Buch, das aufgeschlagen zuoberst liegt – offensichtlich möchte er das Thema wechseln. „Das ist kottanische Schrift, oder? Irgendwie lustig: Sie sieht aus wie lauter eingerollte kleine Schlangen.“
Darüber muss ich lächeln. „Pergament hält sich im Klima des Südens nicht, und bevor das Papier erfunden wurde, schrieb man auf Palmblättern. Man ritzte die Schrift mit einem scharfen Griffel ein und drehte dabei das Blatt unter dem Griffel, nicht den Griffel selbst. So ist die Schrift entstanden.“
„Interessant. Und diese Schrift hier? Sieht ähnlich aus, nur hängen die Buchtaben von einer Linie wie die Wäsche von der Leine.“
„So schreibt man in Dust Khanar – und in Vaschischt übrigens auch.“
„Ah“, sagt Caris, und dann schiebt er das kottanische Buch über Sternkunde beiseite, um sich das andere genauer anzusehen. Damit habe ich nicht gerechnet, und vielleicht hätte ich es zuklappen sollen, als er hereinkam. Aber jetzt hat er es gesehen, und ich merke an seiner Reaktion, dass er ahnt, wovon es handelt. Er betrachtet die Diagramme, die auf den beiden Seiten im Text stehen.
„Du zeichnest sowas öfter mal in die Luft oder auf den Tisch vor dir“, sagt er langsam. „Ich habe mich schon immer gefragt, was das zu bedeuten hat.“
„Man nennt sie La’am, und im Süden benutzt man sie, um damit Magie zu wirken“, sage ich ruhig. „Aber normalerweise ziehe ich nur die Linien“ – ich zeichne eine auf die Platte des Sekretärs – „und das alleine bewirkt noch gar nichts. Es ist einfach ein in einem Zug gezeichneter Schnörkel, der in ein quadratisches Kästchen passen würde. Um ehrlich zu sein, ich zeichne sie nur, um nicht aus der Übung zu kommen. Für sich allein haben sie überhaupt keine Wirkung – man muss sie mit Magie füllen, um etwas zu bewirken. Und das mache ich normalerweise nicht.“
„Aber heute Morgen auf dem Marktplatz...“
„Damit hatte ich selbst nicht gerechnet. Ich benutze dieses La’am immer, wenn du mich vorstellst, und es ist tatsächlich echt, aber es ist passiv. Es bewirkt keine Magie, es reagiert nur auf einen Auslöser, und diesmal hat es reagiert. Es zeigt an, wenn in der Umgebung irgendwo Magie gewirkt wurde.“
Caris runzelt die Stirn. „Magie? Hier? Aber...“
„Es ist ein Dettatreya in der Stadt“, sage ich und überlege kurz, ob ich ihm von dem großen La’am über dem Hafen erzählen soll, entscheide mich dann aber dagegen.
„Aber sagtest du nicht, die dürften Kottalam nicht verlassen? Denkst du, er ist deinetwegen hier?“
„Das glaube ich nicht. Und sie dürfen Kottalam zwar nicht von sich aus verlassen, aber ihr Gildenoberster kann sie aussenden. Vielleicht ist es im Auftrag des Königs hier, in geheimer Mission... Es geht mich nichts an, und ich werde mich von ihm fernhalten.“
Caris nickt. Dann fragt er: „So macht ihr also im Süden Magie? Mit Hilfe dieser La’am?“
„Ja. Für einfache Wirkungen gibt es Standard-La’am, die man auswendig lernt, aber für komplexere Zauber muss man ein eigenes, besonderes entwerfen, weil darin viele Dinge eingehen: der Ort, an dem man sich befindet, die Person des Magiers, die Tageszeit und die Zeit im Jahr, die Dauer der Wirkung, mögliche Gegenkräfte und noch vieles mehr. Das ist die Wirkliche Kunst, wie wir sie nennen, die Magie der Meister.“
„Vielleicht solltest du nicht so offen davon sprechen“, sagt Caris unsicher.
„Warum nicht? Ja, ich bin mit Magie geboren, aber das kann sowieso jeder Heiler erkennen, und ich kann dafür so wenig wie für die Farbe meiner Augen. Magie zu haben ist hier im Lande ja auch nicht verboten, nur Magie zu wirken. Und ich habe dir gerade nur erklärt, wie man im Süden Magie wirkt – wo es erlaubt ist.“
Ja, denke ich, nur nicht für mich. Caris hat offensichtlich denselben Gedanken.
„Aber du sagtest, du bist kein Dettatreya. Woher weisst du dann so viel über Magie?“
„In Dust Khanar“, sage ich langsam, „hat es nie Dettatreya gegeben. Bei uns gab es nie eine Magiergilde, nur Meister, die ihre Schüler ausbildeten. Seit Dust Khanar ein Teil von Kottalam ist, ist das natürlich verboten, aber ich habe meine Ausbildung trotzdem so erhalten. Eines Tages kam einer der Verborgenen Meister zu uns und sagte meinem Vater, dass ich die Anlage zur Magie hätte. Dann hat er mich gefragt, ob ich bei ihm lernen wollte.“
Ich sehe, wie Caris die Stirn runzelt.
„Wie ich schon heute Morgen sagte: Nein, dies ist keine Geschichte von Blut und Rache. Ich habe nicht Magie gelernt, um Dust Khanar zu befreien, oder irgendwelchen Blödsinn in dieser Art. Ich wusste, dass ich niemals starke Magie würde wirken dürfen, denn das würde die Dettatreya auf mich aufmerksam machen. Ich wollte es einfach nur lernen. Du fragst dich, warum?“ Ich schließe die Augen und denke mich in den Jungen von dreizehn Jahren zurück, der ich damals war. „Caris, ich bin der dritte Sohn eines Fürsten, aus einer bedeutenden Familie in Dust Khanar. Du weißt nicht, wie es ist, ein Fürstensohn im Süden zu sein. Eure Adligen sind anders ... sie können leben wie gewöhnliche Menschen. Sie können Gelehrte sein oder ein eigenes Handelshaus führen, ein Schiff ausrüsten, um unbekannte Küsten zu erforschen, sie können neue Apfelsorten züchten oder Bilder malen oder Bücher schreiben.“
„Willst du damit sagen, ihr könnt das nicht?“
„Nein. Es gibt überhaupt nur so wenige Dinge, mit denen sich ein Adliger in Kottalam beschäftigen kann: Bogenschießen, edle Pferde, Sternkunde, Dichtung – die alten Dichter, die über die Liebe und den Wein geschrieben haben … was noch? Musik, Gärten, die Geschichte deiner Familie, Tanz und Schauspiel … aber du kannst diese Dinge nur betrachten, und mit deinen Freunden darüber reden, aber du dürftest nie selbst ein Instrument spielen lernen oder etwa ein Buch über die Gartenkunst schreiben. Das wäre ganz einfach nicht angemessen, und man würde sich nicht nur von dir schockiert abwenden, es würde auch ein Schatten auf deine Familie fallen.“
„Aber warum?“ fragt Caris, und ich merke, wie verblüfft er ist, und denke, ja, du kannst es nicht verstehen. Du kommst aus einer Welt, in der erwartet wird, dass jeder Mensch von Adel, ob Mann oder Frau, zumindest ein Musikinstrument beherrscht und zeichnen kann und rechnen, in denen ihre Bibliotheken Dutzende oder sogar hunderte von Büchern enthalten, über alle Themen, und in der der Bruder eines regierenden Königs ein Buch geschrieben hat über ?Die Geschichte der Fürstenhäuser des Nordens’, das ihm höchstes Lob und Ehre eingebracht hat. Bei uns wäre er angesehen worden wie ein Halbirrer.
„Warum?“ Ich versuche es zu erklären. „Es gibt keinen echten Grund dafür. Vielleicht weil man denkt, als Adliger hättest du ein edler Mensch zu sein, der sich nur mit edlen Dingen beschäftigt und zu anderem, grobem gar keine Neigung hat. Du wandelst im Mondschein durch einen Garten, in einer Hand ein Glas mit feinstem Wein, und rezitierst Verse über den Mond und den Duft der Rosen. Das ist das ideale Bild von einem Fürstensohn im Süden.“
„Aber kümmert sich dein Vater denn nicht um die Geschäfte eurer Familie?“ fragt Caris, der aus einem Volk von Kaufleuten kommt.
„Oh doch, sicher, mein Vater tut das, mit meinem ältesten Bruder. Aber nach außen hin müssen sie natürlich vorgeben, dass sich ein Verwalter um alle Geschäfte kümmert. Alles andere wäre nicht angemessen.
Caris, du denkst vielleicht, es wäre die Erfüllung aller deiner Träume, auf einer kühlen Marmorterrasse zu liegen und einem Lautenspieler zu lauschen, während schöne Frauen dir Luft zufächeln und dich mit in Honig getauchten Trauben füttern, aber das wird zu einem Alptraum, wenn dir klar wird, das dies alles ist, was du an diesem Tag tun wirst – und am nächsten und am übernächsten auch. Als ich erfuhr, dass ich Magie erlernen könnte, habe ich mit beiden Händen danach gegriffen – es war die Möglichkeit, etwas sinnvolles zu machen in meinem Leben.“
Caris nickt langsam.
„Es war wirklich nur ein Zeitvertreib, obwohl ich es ernsthaft angegangen bin“, sage ich ruhiger. „Ich wusste, ich würde nie größere Zauber wirken können, denn ich durfte die Dettatreya nicht auf mich aufmerksam machen – es hätte nicht nur mich in Schwierigkeiten gebracht, es wäre auch auf meine Familie zurückgefallen.
Aber am Ende kam es natürlich genau so. Ich war auf einem Jagdausflug in den Westbergen – oder was man im Süden eine Jagd nennt, du weißt, wie selten wir Fleisch essen. Eigentlich bedeutet es, dass ich mit nur einem oder zwei Dienern ein paar Tage lang durch den Wald geritten bin und irgendwann dann einen Fasan geschossen haben, damit er mir am Abend als Festmahl vorgesetzt werden konnte. Ich mochte diese Jagsausflüge, sie waren Freiheit und sogar ein wenig Abenteuer, aber auf komfortable Art. Und ich habe die Stille genossen, die tiefen Wälder, die Kühle und die Düfte nach Blumen und Blättern und Moos...“
Einen Moment schließe ich die Augen und lasse mich in den Erinnerungen treiben. „Ich wohnte in einer Jagdhütte unserer Familie, das heißt, es war eher ein kleines Schloss. Eines Morgens wachte ich auf und spürte, dass starke Magie in der Luft lag. Ich ritt hinunter – dort fließt ein Fluss, der aus den Bergen kommt, der Dolund, durch ein enges Tal, und dort liegt eine Rubinmine. Sie hat früher unsere Familie gehört und untersteht jetzt den Königen von Kottalam, und als ich dort ankam, fand ich den Verwalter im Streit mit zwei Dettatreya. Sie hatten ein La’am in den Berghang gelegt, um Gestein herunterbrechen zu lassen, aus dem dann die Rubine gewonnen werden – das ist sehr viel einfacher, als sie mühsam aus dem Hang selbst zu hauen.
Es war also nichts ungewöhnliches, aber der Verwalter warf den Dettatreya vor, sie hätten das La’am viel zu groß und zu tief angelegt, es würde viel zu viel Gestein herunterkommen. Er hatte Angst, es würde einen Felssturz geben, der vielleicht sogar das Dorf unterhalb der Mine verschütten könnte. Ich sah mir die Sache an, unauffällig natürlich, und ich erkannte, dass er Recht hatte. Ich nehme an, der Verwalter verstand ein wenig von Magie, auch wenn er nicht darin ausgebildet war, aber auf jeden Fall verstand er eine Menge vom Bergbau. Und dann habe ich begriffen, dass es sogar noch viel schlimmer war. Die Felsen würden nicht nur über den Hang stürzen und bis ins Dorf, das wäre nicht das schlimmste gewesen – der Verwalter hatte das Dorf vorsichtshalber räumen lassen. Der ganze Schutt würden in den Fluss stürzen, und die Schlucht ist dort eng. Es würde sich ein Damm im Flussbett bilden und das Wasser stauen, und du weißt, was das heißt.“
Caris nickt. Die Menschen aus dem Norden erinnern sich nur zu gut an das Unglück in Solhaldern vor gut dreißig Jahren.
„Das Wasser hinter dem Damm wäre gestiegen und gestiegen, und irgendwann wäre der Damm gebrochen“, sagte ich. „Die Flutwelle wäre durch das ganze Tal gerast, und bis hinunter in die Ebene. Es leben viele Menschen am Dolund, es gibt dort Städte... Zuerst hoffte ich, der Verwalter könnte sie überzeugen, aber Dettatreya machen natürlich keine Fehler, oder zumindest geben sie sie nicht zu. Irgendwann ließen sie ihn einfach stehen und machten sich daran, das La’am mit Magie zu füllen, und das war der Punkt, wo ich etwas unternehmen musste. Ich habe das La’am übernommen und gelöscht.“
Was nicht ganz stimmt, denke ich, aber das muss ich Caris nicht erzählen, und für den Ausgang der Geschichte macht es auch keinen Unterschied. „Du kannst dir vorstellen, wie die Sache weiterging. Es gab jede Menge Aufregung, ich wurde verhaftet und es gab eine Untersuchung vor dem König. Normalerweise steht auf so etwas die Todesstrafe, aber auch in Kottalam wird niemand dafür geköpft, dass er ein großes Unglück verhindert. Andererseits hatten wir, das heißt, meine ganze Familie, mich in der Magie ausbilden lassen, und das war ein schwerer Ungehorsam gegen den König. Aber wieder andererseits war niemandem wirklich an einer großen Untersuchung gelegen, ganz bestimmt nicht den Dettatreya – schließlich wäre dann herausgekommen, was ihre Leute beinahe angerichtet hätten. Also fanden sie eine Lösung, wie sie typisch ist für den Süden: Ich wurde verbannt.
Das heißt, ich musste Kottalam verlassen und darf nicht zurückkehren, und ich darf den Namen und das Ta’al – also praktisch das Wappen – meiner Familie nicht benutzen. Aber solange ich mich daran halte, kann ich hingehen, wohin ich will, und leben, wie ich möchte.
Für meine Familie bedeutet das, dass sie einen ihrer Söhne verloren hat, aber andererseits bin ich gesund und am Leben, und eine Verbannung ist nicht unehrenhaft, also fällt kein Schatten auf die Familie. Und so haben wir die Strafe als angemessen und gerecht anerkannt, und damit war dem König genüge getan.
Ich habe etwa ein Jahr lang auf den Inseln gelebt, aber dort schlichen ständig irgendwelche Leute um mich herum, die über mich Einfluss auf meinen Vater gewinnen wollten – Akkader, kottanische Kaufleute, Abgesandte des Fürsten der Inseln und was weiß ich wer noch alles. Daher bin ich dann in die Neue Welt gekommen und habe mich in Broras niedergelassen, und dort bist du über mich gestolpert, als ich ein paar Freunde mit meinen Tricks unterhalten habe. Du hast mich engagiert, und den Rest kennst du.“
„Und so landet ein Fürstensohn aus Dust Khanar in Viktor Caris’ größter Schau des Ostens und des Westens“, sagt er und lächelt ein wenig, aber er wirkt fast traurig.
„Oh, denkst du, ich würde mir hier verloren vorkommen wie ein armer Flüchtling? Nein, wirklich nicht. Sieh dich um“, sage ich und zeige auf das Innere meines Wagens, die eingebauten Möbel aus Kirschbaumholz, die bestickten Polster und die Einlegearbeiten in den Türen meines Schreibschranks. „Caris, das hier ist genau das Leben, das ich mir immer gewünscht habe. Wie ich sagte: Freiheit und sogar ein wenig Abenteuer, aber mit Komfort. Und ich lebe bei weitem nicht nur von meiner Gage. Du weißt, mir gehört ein Haus in Broras, und ich habe ein Apam – ein persönliches Einkommen unabhängig vom Vermögen meiner Familie –, von dem ich bisher nie auch nur ein Viertel im Jahr abgerufen habe. Ich könnte wie ein wohlhabender Mensch leben – wie ein sehr wohlhabender –, aber was, denkst du, sollte ich machen? Auf einem Polster vor dem Kamin liegen, einem Harfenspieler zuhören und mich von schönen Frauen mit zuckerumsponnenen Pflaumen füttern lassen?“
Wir müssen beide lachen.
„Die Wahrheit ist, ich liebe dieses Leben“, sage ich.
Caris nickt. „Das glaube ich dir. Ach, und da wir gerade von essbaren Dngen reden: Heute findet unser großes Abendessen zur Premiere im ?Krug und Kessel’ gleich drüben am Rathausplatz statt, und vergiss nicht, es beginnt wie die Vorstellung diesmal eine Stunde früher.“

Das große Abendessen unserer Truppe ist eine Tradition: Jeweils am Abend vor der ersten großen Vorstellung der Saison versammeln wir uns alle in einer der besten Gaststätten des Ortes und essen gemeinsam – Caris lädt uns ein. Alle sind dort, und wir tragen unsere Bühnenkostüme, was wir sonst nicht machen, denn schließlich ist es mehr als lästig, noch zehn Minuten vor deinem Auftritt einen Soßenfleck von deiner Jacke entfernen zu müssen.
Dies war ein besonderer Abend. Die Vorstellung heute war nicht wirklich die erste der Saison, wir waren schon in einigen kleineren Städten aufgetreten, aber dennoch war es eine Art Premiere. Gudenhaven ist eine bedeutende Stadt, und ein Hafen, und wenn wir gut ankamen, würde es sich herumsprechen, und man würde uns in jeder Stadt, in die wir kamen, erwartungsvoll empfangen. Wenn wir allerdings schlecht waren heute Abend... Es hing, wie jedes Mal, viel davon ab.
Ich bin ein wenig aufgeregt, nicht nur wegen der Premiere, sondern auch, weil ich zum ersten Mal in dem neuen Kostürm auftreten werde – die Scharlatan-Robe hatte ausgedient. Also ziehe ich mich sorgfältig um: keine weiten Ärmel und fliegenden Stofffalten mehr, sondern ein Hemd aus feinem Leinen und darüber die neue Jacke aus perlgrauer Seide, geschnitten wie im Süden üblich, mit engen Ärmeln und ohne Kragen und sichtbare Taschen. Die Leute gehen davon aus, dass ein Bühnenzauberer Dinge in seiner flatternden Robe verbirgt, und sie würden sich sagen, dass das mit einer solchen Jacke nicht ginge. Ich weiß es besser: Schließlich hatte ich selbst die verborgenen Taschen eingebauen lassen.
Und weil eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und eine graue Jacke (auch wenn sie aus Glanzseide ist) auf der Bühne viel zu trist aussehen, habe ich mir noch eine Schärpe aus feinster Paschmiri-Wolle besorgt, in Rot mit goldgelbem Pfauenmuster, die ich mir jetzt nach akkadischer Art um die Hüften binde. Es ist erstaunlich, was man darin alles verbergen kann.
Ich habe meine Haare schon zu einem Knoten gewunden und will sie gerade zusammenbinden, als mir plötzlich ein Gedanke kommt. Warum nicht, denke ich. Es würde meine Erscheinung noch ein wenig exotischer wirken lassen und sich auf der Bühne gut machen – bislang hatte ich dort die Haare immer offen getragen, auch das verdeckt vieles, was man das Publikum nicht sehen lassen möchte. Aber für heute habe ich eine andere Idee.
So hole ich meine Schatzdose aus dem unteren Schrank hervor. Sie sieht aus wie eine Holzkugel, die keine Öffnung hat, kein Schlüsselloch und nicht einmal eine sichtbare Naht. Aber sie ist magisch: Als ich meine Hände an sie lege, zerfällt sie ohne Widerstand in zwei Hälften. Für niemand anderen würde sie sich öffnen. Innen ist sie hohl, und ich verwahre hier die wenigen wirklich wertvollen Dinge auf, die ich auf die Reise mitnehme.
Jetzt nehme ich eine Haarspange heraus, die meine Mutter mir mitgegeben hat, als ich Dust Khanar verlassen habe. Sie ist aus Gold, oval, mir einem feinen Rosenmuster um den Rand, und die Mitte ist leer – dort würde mein Ta’al stehen, wenn ich es noch führen dürfte. Ich fasse meine Haare mit der Spange zusammen, und dann bin ich bereit für das Festmahl.

Ich muss nicht weit gehen, das Gasthaus ?Krug und Kessel’ steht auf der anderen Seite des Rathausplatzes. Es nimmt das ganze Erdgeschoss zweier miteinander verbundener Häuser ein, und die Gaststube ist ein großer Raum, der nicht durch Wände unterteilt ist, nur durch die Holzpfeiler, die die oberen Geschosse tragen. Tische sind zu einer langen Tafel zusammengestellt worden, an der die elf Personen Platz finden, aus denen unsere Truppe besteht. Caris steht an ihrem oberen Ende, er begrüßt uns alle, dann sagt er „Möge ein Segen auf dieser Tournee liegen“ und verspritzt drei Tropfen Wein, auf dass es Glück bringen möge. Dann werden die Speisen aufgetragen.
Ich wähle Brathuhn – wir im Süden essen normalerweise kein Fleisch von Tieren, die lebende Junge zur Welt bringen. Sie sind uns zu ähnlich, aber Tiere, die Eier legen, sind in Ordnung. Dazu nehme ich mir ganz zarte junge Karotten, mit Honig glasiert, und Linsengemüse.
Es gibt von allem reichlich, aber niemand von uns isst viel. Wir haben alle noch eine Vorstellung zu geben, und mit übervollem Magen ist das nicht nur unangenehm, sondern wirklich gefährlich. Deshalb trinken wir auch nur einen ganz leichten Apfelwein, manche nicht einmal das, sondern nur Wasser.
Ich trinke meinen Wein nicht – das heißt, noch nicht. Ich mag die Nordländer, ich mag ihr Land und die Art, wie sie sich kleiden, und ich mag sogar das Wetter hier, aber es gibt einige ihrer Angewohnheiten, die so barbarisch sind, dass ich sie nie annehmen werde. Dazu gehört, sich die Haare zu kürzen, Wollhemden zu tragen – und Wein zum Essen zu trinken. Ein guter Wein hat es nicht verdient, vom Geschmack von Röstkartoffeln und gebackenem Käse überdeckt zu werden.
Deshalb habe ich aus meinem Becher noch nicht getrunken, als ich mit dem Essen fertig bin. Jetzt greife ich danach, aber bevor ich den ersten Schluck nehme, tauche ich meinen Finger in den Wein und male ganz unauffällig ein La’am auf den Becher. Ich erwarte, dass das geschieht, was immer geschehen ist: dass es ganz einfach verschwindet. Aber diesmal wird der Wein dunkel, fast rostbraun, und dann zieht das La’am sich zu einem Tropfen zusammen.
Ich starre darauf, aber der dunkle Tropfen bleibt. „Nun, das kommt überraschend“, sage ich halblaut, und dann nehme ich meinen Becher und gehe ein wenig umher, rede mit Leuten und höre mir ein paar gut gelaunte Bemerkungen über mein neues Kostüm an. Und irgendwann, während ich mich mit Dries Van Doren unterhalte, gieße ich meinen Wein unauffällig in einen Kamin, in dem an diesem lauen Abend kein Feuer brennt.
Aber offensichtlich war ich nicht unauffällig genug. Plötzlich steht Caris neben mir und legt eine Hand auf meinen Arm. „Warum hast du das gemacht?“ fragt er leise.
„Es war Gift in meinem Wein“, sage ich ruhig.
„Sag das nicht!“ Er starrt mich erschrocken an. „Ich habe von dem gleichen Wein getrunken!“
„Ich denke, das Gift war nur in meinem Glas“, beruhige ich ihn. „Sie wollten sicher nicht riskieren, dass ein halbes Dutzend Gäste plötzlich vom Hocker fällt.“
„Aber Gift...“, sagt er immer noch beunruhigt.
„Ich wäre nicht daran gestorben. Es war Brechwurz, eine mittlere Dosis – ich hätte eine scheußliche Nacht gehabt, mit Magenkrämpfen und Erbrechen und kalten, kraftlosen Händen, aber bis morgen Mittag hätte ich mich erholt.“
„Denkst du, er war es? Dieser Dettatreya? Und warum nur?“
„Ich weiß nicht warum. Es sieht so aus, als wollte er mich für diese Nacht ausschalten, damit ich ihm nicht in die Quere kommen kann … ehrlich gesagt, ich will es gar nicht wissen. Und ich denke, er wird es nicht selbst gewesen sein, für solche Dinge hat er sicher einen Gehilfen.“
Caris schüttelt den Kopf und geht zu den Barollis hinüber, und ich bleibe sehr nachdenklich zurück. Ich kann mir natürlich nicht sicher sein, dass der Dettatreya hinter dem Giftanschlag steckt, aber ich wüsste auch niemanden sonst, der so etwas tun würde, und Brechwurz ist eine Pflanze aus meiner Heimat, die in der neuen Welt nicht wächst. Warum versucht er mich kaltzustellen? Ich kann mir nur denken, dass er heute Nacht Magie wirken will, und ich bin der einzige, der erkennen kann, was er tut, und mit dem Finger auf ihn zeigen könnte. Nun, ich werde vorsichtig sein – das ist etwas, das ich schon vor langer Zeit gelernt habe.

Später am Abend geben wir unsere Vorstellung, und sie wird ein großer Erfolg. Das Publikum besteht aus den Ratsherren, ihren Familien und den Gästen, die sie eingeladen haben, alles sehr vornehme und ernste Bürger, aber wir schaffen es sie mitzureißen. Sie staunen und klatschen und sagen ?Oh!’ und ?Ah!’, als Iris Dupont über und unter einen Tisch gleitet und ihre Glieder verknotet, als hätte sie keine Knochen, und als die Van-Doren-Brüder durch den Saal springen und an einer Stange hochklettern, und als ich meinen Auftritt damit beginne, blaue Flammen auf meiner Hand brennen zu lassen.
Ich lege alles in meinen Auftritt, biete ihnen bunte Lichter und schwebende Vasen (dies ganz ohne Magie) und Dinge, die von einem Augenblick auf den anderen einfach verschwinden – Illusionszauber, die ich bisher noch nie auf der Bühne gezeigt habe. Und als ich zum Abschluss Rosenranken von der Decke wachsen lasse und ihre Blüten sich über den Köpfen der Zuschauer entfalten (auch das eine Illusion), da sehe ich atemloses Staunen in ihren Gesichtern – und ein Stirnrunzeln bei dem obersten Heiler der Stadt.
Caris hat es offensichtlich auch gesehen. Nach meiner Vorstellung nimmt er mich hinter der Bühne beiseite.
„Ich hoffe nicht, dass du morgen vom Magistrat vorgeladen wirst“, sagt er leicht besorgt.
„Weil ich zu viel Magie verwendet habe? Dann werde ich mich angemessen zerknirscht zeigen, versprechen, dass ich es nicht wieder tue, und mich auch daran halten. Mach dir keine Sorgen, ich bringe die Tournee nicht in Gefahr.“
Caris nickt, und dann sehen wir beide Lino Barolli zu, wie er brennende Messer auf die Scheibe wirft, vor der seine Ehefrau steht. Diese Nummer hat das Publikum in der letzten Saison noch mehr in ihren Bann gezogen, erinnere ich mich, denn damals war Nora Barolli hochschwanger. Inzwischen schläft ihr kleiner Sohn hier hinten in einem Weidenkörbchen neben meinen Requisiten.
Schließlich braust zum letzten Mal Applaus auf, die Vorstellung ist zu Ende, wir treten alle noch einmal vor den Vorhang und verbeugen uns, und dann eilen wir zu unseren Wagen, um uns umzuziehen und rechtzeitig am Hafen zu sein, wenn die Mondfinsternis ihren Höhepunkt erreicht.

Als ich an der Mauer über dem Hafen ankomme, jetzt ohne Seidenjacke und Schärpe und in einem vernünftigen Gehrock, ist der Mond nur noch eine schmale Sichel. Überall auf der Mole und der Landzunge stehen die Menschen. Ich wundere mich, wie still es ist – zuhause würden überall Musikanten spielen und Leute tanzen, und fliegende Händler würden geröstete Nüsse und Milchpudding verkaufen. Hier stehen die Menschen einfach da, reden leise miteinander und sehen in den Himmel, und viele Paare halten sich an den Händen.
Der grüne Stern steht hoch am Himmel und leuchtet so hell, wie ich ihn in meinem Leben noch nicht gesehen haben – die Gelehrten sagen, dass er nur alle 26 Jahre so kräftig scheint. Das Meer ist spiegelglatt und liegt unter dem Himmel wie grünes Glas, und ein leichter Dunst in der Luft nimmt den grünen Glanz auf, so dass man sich fast wie unter Wasser vorkommt.
Dann schiebt sich der Schatten gänzlich über den Mond, und ein Raunen geht durch die Menschenmenge – ?Ah, jetzt!’ – und überall küssen sich die Pärchen. Wir anderen drehen uns diskret weg … und dann, ohne Vorwarnung, geschieht etwas. Ich merke es, und einige andere offensichtlich auch – ganz sicher der oberste Heiler, der nicht weit entfernt von mir an der Mole steht. Er dreht sich scharf um sieht zu mir herüber, und dann runzelt er die Stirn und wirkt erstaunt. Nein, denke ich, ich war es nicht, aber ja, es ist Magie, und du spürst es auch, nicht wahr? Es ist der Dettatreya, der sein La’am mit Magie füllt, ganz wie ich es erwartet habe. Ich habe so etwas schon in Kottalam gesehen, wenn sie solche La’am uber ganze Städte zogen, um die schlimmsten Einflüsse solcher Mondfinsternisse abzuwenden.
Und dann schreit jemand auf und zeigt auf das Meer, andere stürzen zur Hafenmauer, um besser sehen zu können, und ich begreife, dass ich mich die ganze Zeit geirrt habe. Nein, das La’am bedeutet nicht das, was ich glaubte.
Dort draußen, vor der Küste, ist ein weißer Streifen Gischt, und er kommt näher, wie eine Woge, die auf die Stadt zurollt. Aber es ist keine Woge. Ich sehe Flossen, schwarz-weiße Leiber, die das Meer aufwühlen – noch keine scharfen Zähne und wasserblauen Augen, dazu sind sie zu weit entfernt. Aber sie kommen näher, wie eine Flotte von Schiffen, die auf den Hafen zuläuft.
Caris packt mich an der Schulter. „Sind das Meerechsen? So viele... Das müssen Dutzende sein, vielleicht hundert!“
„Ja“, sage ich, und schüttle seine Hand ab und eile zu dem obersten Heiler, der sich zu mir umdreht. „Wisst Ihr, was das bedeutet?“ fragt er und sieht sehr besorgt aus. Dazu hat er allen Grund, denke ich.
„Sie stehen unter einem Bann, sie werden gezogen“, sage ich und versuche meine Gedanken zu ordnen. „Jemand wirkt Magie... Ihr spürt es auch, oder? Ich glaube, es ist ein Dettatreya. Er zieht sie auf die Stadt.“
„Die Meerechsen? Aber wie kann er so viele von ihnen sammeln?“
„Nein, sie waren schon auf dem Weg zur Küste. Sie tun das immer, wenn eine Mondfinsternis im Frühling zur Zeit des Grünen Sterns stattfindet. Sie kommen dann zu Küste und kriechen an den Strand, bis in die Dünen dahinter. Dort legen sie ihre Eier ab. Das geschieht selten, vielleicht nur alle hundert Jahre, manchmal drüben in Kottalam und offensichtlich auch hier an dieser Küste.
Ich denke, ohne den Bann wären sie auf dem Weg zu den Stränden südlich von hier – die Stadt würden sie normalerweise gar nicht beachten, sie ist auf Felsen gebaut. Seht Ihr, wie sie dagegen ankämpfen, hierher schwimmen zu müssen?“
Der Heiler nickt. „Ja, aber sie kommen näher. Was können wir tun? Der Hafen, die Schiffe … wir müssen die untere Stadt räumen lassen!“
„Wartet“, sage ich. „Ich glaube, ich kann diesen Bann lösen. Aber dazu muss ich Magie wirken. Erlaubt Ihr es?“
Er sieht mich durchdringend an, und dann nickt er. Er hebt die Hand und sagt sehr laut: „Was dieser Mann tut, macht er mit meiner Zustimmung und unter meinem Schutz.“
„Danke“, sage ich, und sprinte los, zu dem nächsten Ankerpunkt des La’am. Als ich davor stehe, frage ich mich, ob ich überhaupt weiß, was ich hier tue. Dann hole ich tief Luft und lege meine Hände auf das La’am.
Es ist, als ob eine Woge mich überrollt, als wenn das Wasser über mir zusammenschlägt, nur ist es Magie. Ich stemme mich gegen die Woge und kann sie aufhalten, bekomme die Magie zu packen, die in diesem La’am fließt, und halte sie auf. Das ist gut. Nur löst es das Problem nicht.
Ich werfe einen Blick über meine Schulter zum Meer und erschrecke. In der kurzen Zeit, während ich mit dem Heiler gesprochen habe, sind die Echsen so viel näher gekommen, dass ich die weißen Narben und die ausgefransten Flossen bei vielen von ihnen erkennen kann. Aber im Moment kommen sie nicht näher. Sie halten inne, denn der Bann ist blockiert – aber nicht aufgehoben.
Ich spüre den anderen, den Dettatreya – er ist ganz sicher einer –, der in diesem Augenblick ebenfalls das La’am berührt. Er pumpt seine Magie hinein, ich halte dagegen, und im Moment ist es ein Patt. Aber das wird mich nicht weiterbringen. Es muss nur das La’am aufrechterhalten, dann wird sich meine Kraft irgendwann erschöpfen, und das bald. Ich werde das hier nicht mehr als zehn oder zwanzig Minuten durchhalten können.
Das Problem ist, dass man ein La’am nur aufheben kann, wenn man es voll und ganz beherrscht. Dann ist es leicht, man muss nur die Magie abfließen lassen und kann es dann löschen – das ist genau das, was ich damals in der Mine getan habe. Aber hier hält der Urheber des La’am es fest, und ich müsste ihn daraus verdrängen, was nur dann möglich wäre, wenn ich sehr viel stärker wäre als er. Und das bin ich nicht.
Das weiß er, und deshalb wartet er ganz einfach ab, bis mir die Kraft ausgeht. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit, von der die Dettatreya nichts wissen. Die Meister in Dust Khanar kennen sie, und daher auch ich, jedenfalls theoretisch. Man kann ein La’am auch brechen.
Das ist möglich, auch wenn der andere Magier es vollständig beherrscht. Es reicht aus, wenn er für einen Augenblick abgelenkt ist, zwei, drei Lidschläge lang. Außerdem ist es gefährlich, aber das muss ich riskieren. Nur, wodurch könnte er abgelenkt werden? Nach dem, was ich spüre, ist er entspannt und konzentriert.
Wenn wir wüssten, wo er ist, könnte man jemanden hinschicken, der ihn aus der Fassung bringt – Lärm macht, ihm einen alten Schuh an den Kopf wirft, irgendwas. Wenn wir wüssten, wo er steckt... Ich konzentriere mich auf seine Gegenwart, die ich durch das La’am spüre. Er ist ziemlich weit entfernt, in einem anderen Teil der Stadt, das kann ich fühlen, und hoch über mir … wahrscheinlich irgendwo auf einem Dach. Aber das hilft mir nicht weiter. Und die Stadtwächter auf die Suche zu schicken, bringt nichts, dazu fehlt uns die Zeit.
Dann fällt mir etwas ein aus den Jahren, als ich mit meinem Meister geübt habe. Wenn zwei Magier über ein La’am in Verbindung stehen, dann kann der eine oft fühlen, was der andere wahrnimmt, was er sieht und hört, und manchmal sogar, was er riecht. Das heißt, aus dem, was mein Gegner sieht, könnte ich vielleicht schließen, wo er ist. Es ist einen Versuch wert.
Ich konzentriere mich. Zuerst ist da gar nichts, nur graue Stille, und dann, ganz plötzlich, fühle ich die Verbindung und sehe etwas, erstaunlich deutlich und ganz klar. Zu meiner Verblüffung sehe ich mich selbst.
Vor meinem inneren Auge entsteht ein Bild von mir, wie ich vor dieser Mauer stehe, die Hände auf den Ankerpunkt gelegt, mit wehenden Haaren. Aber der Magier kann mich nicht so sehen, er ist weit von hier entfernt … und dann verstehe ich: Er sieht durch die Augen seines Gehilfen.
Wo steht dieser Gehilfe? So, wie er mich sieht, links von mir, irgendwo zwischen den Leuten, die sich um mich versammelt haben und mir zusehen. In der zweiten Reihe, halb hinter einem Mann in einem auffallenden rehbraunen Gehrock. Ich riskiere es und sehe in diese Richtung. Ja, da ist der Mann – offensichtlich ein Flame, niemand sonst trägt so einen Hut – und hinter seiner Schulter … ja, das muss er sein. Er ist noch fast ein Junge, höchstens 17 oder 18 Jahre alt, ganz unauffällig, gekleidet wie ein Schreiber oder ein Handelsgehilfe. Dann führt er etwas zum Mund, und ich begreife. Mist. Er hat ein Blasrohr.
Ein Blasrohr bedeutet vergiftete Pfeile – wahrscheinlich Crore, was die Muskeln lähmt. Vermutlich wird es mich nicht umbringen, aber ich werde hilflos zusammenbrechen, und sein Meister hat freie Bahn.
Während ich dies alles denke, bildet sich in meinem Kopf ein Plan. Er ist riskant, aber wenn er funktioniert, erreiche ich zwei Dinge zugleich, und außerdem geht mir die Zeit aus. Also nehme ich die Hände von dem Ankerpunkt – ein Schrei geht durch die Menge, denn die Meerechsen stürmen wieder auf den Hafen zu – ich zeichne ein La’am in die Luft, und vor dem Jungen erblüht ein Licht, nur ein Bühnenzauber, aber schneidend grell – es blendet ihn, er lässt das Blasrohr fallen, und ich fahre herum und presse meine Hände wieder auf das La’am. Ja: Der Dettatreya hat durch die Augen des Jungen gesehen, und das Licht hat auch ihn erwischt. Er ist erschrocken, nur diesen einen Moment lang, aber das genügt. Ich packe zu und breche das La’am.
Praktisch sofort reiße ich meine Hände weg, aber es erwischt mich doch – es ist wie ein Schlag mit einem Mehlsack, und ich gehe zu Boden. Es ist die abfließende Magie, als der Bann zusammenbricht.

Ich muss wohl einige Augenblicke lang bewusstlos gewesen sein, denn als ich wieder zu mir komme, sehe ich die besorgten Gesichter von Caris und dem Heiler. Sie helfen mir hoch, aber ich muss mich auf Caris stützen, denn meine Beine fühlen sich an wie gekochter Spargel.
„Sehr nur“, sagt der Heiler und zeigt auf das Meer, „sie haben abgedreht und schwimmen nach Süden. Nun kann die Natur ihren vorbestimmten Lauf nehmen.“
Das ist genau der Moment, in dem jemand schreit: „Da, eine kommt doch hierher“, aber die Aufregung legt sich schnell, als klar wird, dass diese Meerechse die Sandbucht im Norden ansteuert. Ich sehe ihr nach, wie sie, größer als die Schiffe dort unten, langsam an der Hafeneinfahrt vorbeischwimmt, und sage mehr zu mir selbst: „Ich möchte wissen, was das alles zu bedeuten hat.“
„Das kann ich Euch vielleicht erklären“, sagt eine ebenso leise Stimme neben mir. Der Mann, der gesprochen hat, könnte ein Ratsherr sein, nur trägt er keine Amtskette, und seine Kleidung ist dafür auch zu teuer.
„Rikkard Sjöberg“, stellt er sich vor. „Von der Gilde der Fernkaufleute.“
Oh. Die Fernkaufleute sind eine sehr kleine Gilde von Kaufleuten, die eigene Schiffe haben – nicht nur Beteiligungen daran. Sie sind entweder sehr reich oder ganz unvorstellbar reich. Außerdem heißt es, dass sie nicht selten Aufträge für den König übernehmen und in fernen Ländern für ihn Verhandlungen führen.
„Ich weiß, wer Ihr seid“, sagt er mit einem Lächeln, „auch wenn Ihr mir Euren wahren Namen nicht nennen könnt. Daher frage ich euch: Habt Ihr eine Vermutung, warum dies alles geschehen ist?“
Ich schüttle den Kopf. „Der Magier war ein Dettatreya, und das muss bedeuten, das er im Auftrag des Königs gehandelt hat – des Königs von Kottalam.“ Das heißt, meines Königs, wie mir gerade unangenehm klar wird. „Aber ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum er es getan hat. Vielleicht finden Sie ihn und können ihn befragen.“
„Wir haben ihn gefunden, aber er ist tot. Er ist von einem Dach gestürzt, aber der Heiler, der ihn untersucht hat, meint, dass nicht der Sturz ihn getötet hat. Es sieht so aus, als wäre sein Herz von innen verbrannt.“
„Oh“, sage ich. „Dann hat er versucht, sein La’am zu stabilisieren, als es brach … und die ganze Magie ist durch ihn hindurch abgeflossen.“
„Der Heiler vermutete schon etwas ähnliches. Und was den Grund angeht für diesen Versuch, den Hafen zu zerstören, kann ich Euch, glaube ich, so viel sagen: Ihr wisst, dass wir schon sehr lange mit Vaschischt verhandeln, um Zugang zum östlichen Ozean zu bekommen. Damit hatten wir keinen Erfolg, aber schließlich haben die Verhandlungen doch etwas gebracht. Es ist ein Abkommen geschlossen worden, das den Händlern aus Vaschischt in einem Hafen der Neuen Welt besondere Anker- und Stapelrechte gestattet, wenn sie uns dafür ihre Waren zu besseren Bedingungen verkaufen. Dieser Hafen wird Gudenhaven sein.“
„Dann gehen die Waren aus dem Fernen Osten an Kottalam vorbei... Denkt Ihr, das ist der Grund? Ich weiß nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der König dafür das Leben von Menschen riskiert. Der Handel mit Waren aus dem Osten macht nur einen kleinen Teil der Geschäfte von Kottalam aus. Würde er dafür riskieren, Euch zu seinen Feinden zu machen? Das würde den Handel wirklich zusammenbrechen lassen.“
„Ja, aber wenn Ihr nicht in der Stadt gewesen wärt, hätten wir niemals erkannt, dass ein Magier hinter allem steckte. Wir hätten es sicher für ein seltenes Naturphänomen gehalten, aber der Hafen wäre zerstört gewesen, und ein großer Teil unserer Fernhandelsschiffe dazu.“
„Trotzdem“, sage ich nachdenklich. „Ich verstehe nicht, was hinter diesem Plan stecken könnte – und wer. Bevor Ihr etwas gegen Kottalam unternehmt, bitte ich Euch, zu versuchen, das zu klären. Ihr solltet mit den Kaufmannsgilden in Kottalam reden. Ich denke, sie werden auf Eurer Seite sein.“
Er lächelt. „Könntet Ihr möglicherweise derartige Verbindungen knüpfen?“
Ich nicke. „Ich bin zwar verbannt, aber ich bin immer noch der Sohn meines Vaters.“
Es ist seltsam, denke ich, während ich über den Hafen blicke, auf die Schiffe unter mir und auf das Meer, über dem der Mond jetzt wieder als breite Sichel scheint, seltsam, dass ich als dritter Sohn eines Fürsten aus Dust Khanar noch etwas gelernt habe. Nicht nur Bogenschießen und richtiges Verhalten bei Hofe und dreihundert Jahre alte Gedichte, sondern auch die Kunst, zu verhandeln und Verbindungen zu knüpfen. Das ist schon eine seltsame Karriere: Magier, Bühnenzauberer und Diplomat. Mein Vater wäre stolz auf mich.

© P. Warmann