Die Farben der Krähe – Eine moderne Fabel.

Als die Vögel erschaffen worden waren, da hatten sie noch keine Farben. Und wie die Insekten, die Fische und die Amphibien – aber nicht die Säugetiere, aus welchen Gründen auch immer – durften sie ihre Farben und Muster selbst entwerfen.
So machten sie sich ans Werk. Die Krähe ließ sich Zeit. Sie grinste, als sie sah, wie Spatz und Sperber die gleichen unauffälligen Brauntöne benutzten, der eine, um nicht zur Beute zu werden, der andere, um von seiner Beute nicht bemerkt zu werden. Sie wusste, dass die Möwe das reine Weiß wählte, um für die Augen der Fische als weißer Schatten mit dem hellen Himmel zu verschmelzen. Und die Einfälle von Pfau und Fasan, Ara und Eisvogel entlockten ihr ein anerkennendes Nicken.
Dann griff auch die Krähe zum Pinsel. Sorgfältig, Strich für Strich, malte sie ihre Muster, in metallischen Tönen von Blau und Grün mit feinsten Konturen in Silber, Muster, die ineinander verwobenen waren, sich wiederholten und sich doch bei jeder Wiederholung wandelten. Nie hat die Welt einen schöneren Vogel gesehen.
Die Krähe hatte lange für ihr Werk gebraucht, und als sie fertig war, stellte sie fest, dass sie fast die letzte im Atelier war. Nur der Flamingo stand noch in einer Ecke, weil ihm aber auch gar nichts einfallen wollte. Schließlich griff er sich frustriert den nächsten besten Farbeimer (zufällig war es Rosa), schüttete ihn sich über den Kopf und stakste davon.
Auch die Krähe wollte gehen. Als sie aber einen Blick in die Welt hinaus warf, sah sie, dass die bunteren der anderen ihre Probleme damit hatten. Ob Paradiesvogel, Rosalöffler oder Goldfasan, sie wurden gnadenlos gejagt von denen, die sich mit fremden Federn schmücken wollten. Wer diesem Schicksal entging, der fand den Ärger in den eigenen Reihen: vor lauter Vergleichen und Prunken und Protzen und dem Wettstreit, wer denn nun der Prächtigste wäre, gab es keine Ruhe im Schwarm.
Da ging die Krähe noch einmal zurück und tauchte den Pinsel in den Topf mit dem Schwarz. Fein säuberlich lackierte sie eine Schicht Mattschwarz über das Ganze. Wohlgemerkt, sie lackierte sie nur darüber. Unter dem Schwarz sind noch immer die Muster und die Farben, nur sind sie nicht mehr zu sehen. Aber die Krähe selbst weiß, wie schön sie eigentlich ist. Und das genügt ihr.

© P. Warmann