Wie ich versuchte, Meister Wangs Schüler zu werden.

Irgendwann im letzten Winter, kurz nachdem ich in diese große Stadt gezogen war, hörte ich das erste Mal von Meister Wang. Er sei ein spiritueller Meister, hieß es, einer der ganz großen. Er hätte lange Zeit im Verborgenen gewirkt (was auch immer das heißen mochte) und wäre jetzt bereit, wieder Schüler anzunehmen. Das reizte mich. Ich war in die große Stadt gekommen zum Teil auch in der Hoffnung, hier Antwort auf meine Fragen zu finden. Ich suchte ... aber das ist ein Teil der Geschichte, die ich jetzt erzählen will.

Also, Meister Wang bot an, Schüler anzunehmen. Ich fragte die Leute aus, was für ein Mensch denn dieser Meister Wang sei und wovon nun genau Meister, aber so richtig konnte mir das niemand sagen. Er würde das wahre Wesen der Dinge kennen, hörte ich, könnte lehren, wie man die Wurzeln der Welt bewahrt und das eigene Selbst pflegt. Oder so ähnlich, eben alles ziemlich vage. Trotzdem entschloss ich mich, es mit diesem Meister zu versuchen.

Schließlich kam der große Tag. Inzwischen war es Februar, der Winter fast vorüber. An diesem Tag sollten sich jene, die Schüler von Meister Wang werden wollten, in seinem Haus einfinden, morgens um Zehn. Ich frühstückte kräftig, denn solche Sachen können sich hinziehen. Stand vielleicht eine Prüfung oder etwas ähnliches an? Die ich fragte, wussten es nicht. Um auf alles vorbereitet zu sein, steckte ich einen Bleistift ein.
Es war nicht ganz leicht, mit dem Bus von dort, wo ich damals wohnte, zu Meister Wangs Haus zu kommen. Ich musste zweimal umsteigen. Trotzdem nahm ich den Bus, ich wäre nur ungern mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, denn es lag überall knöchelhoher Schneematsch.
Meister Wang lebte in einer alte Villa aus der Gründerzeit, stellte ich fest, einer von jenen, in denen man heute meistens Arztpraxen oder Notare findet. Oder Werbeagenturen.
Gerade als ich ankam, hielt ein Wagen vor dem Haus, ein ältlicher Golf in einem ganz komischen Orange. Die Tür ging auf, und der Fahrer wollte aussteigen. Fast setzte er seinen Fuß schon auf den Gehsteig, dann zuckte er zurück. Ich konnte ihn verstehen. Am Kantstein wartete zusammengeschobener Schnee, matschig und ziemlich dreckig, und er trug Sandalen. Breitrandige Wandersandalen zwar, und handgestrickte Wollsocken, aber eben trotzdem Sandalen. Schließlich biss er die Zähne zusammen und trat in den Matsch.
Er raffte seine Kutte und hüpfte mit langen Schritten in meine Richtung. Ich hielt ihm das Gartentor auf, denn mir war klar, dass auch er ein Anwärter auf den Posten bei Meister Wang sein musste. Die Kutte, oder wie auch immer man das nennen sollte, was er anhatte, war ein sicheres Anzeichen dafür. Er bedankte sich höflich und warf einen schrägen Blick auf mich in meinen wasserdichten Stiefeln und dem Anorak. Dagegen war er nicht gerade für das hiesige Klima gekleidet: Außer den Sandalen trug er eben jene Wickelkutte von der Art, wie man sie in Filmen über Thailand bei den dortigen Mönchen sieht, und in genau jenem Orange. Die Socken hatten übrigens die gleiche Farbe. Immerhin konsequent. Mit hochgeraffter Kutte stakste er vor mir durch den Vorgarten (der Weg war nicht geräumt) in Richtung Haus.
Wir mussten nicht einmal klingeln. Die Tür wurde vor uns geöffnet und eine ältere Asiatin bat uns herein. Sie wies uns den Weg in einen kleinen Raum, der von der Eingangshalle abging, und bat uns, dort zu warten. Meister Wang würde uns gleich empfangen.

Ich hätte erwarte, die Bewerber um die Schülerstelle bei dem berühmten Meister Wang würden sich geradezu stauen, aber außer mir und Gelbkutte war anscheinend nur noch ein einziger erschienen. Er saß im Wartezimmer auf dem Boden und wartete.
Auf dem Boden saß er deshalb, weil es sonst nichts zum sitzen gab. Das Zimmer war sehr klein (ich schätze, es muss ursprünglich eine Garderobe gewesen sein) und völlig leer. Auslegeware auf dem Boden, die Wände stoffbespannt, ein Fenster, ein Heizkörper, das war es. Nicht einmal Bilder hingen hier. Gelbkutte sah sich etwas unsicher um und ließ sich dann im Lotussitz auf dem Boden nieder. Er starrte angestrengt in Richtung Tür (die offen stand, aber ein Bambusvorhang hing in der Öffnung).
Ich betrachtete meine beiden Mitbewerber. Gelbkutte habe ich schon beschrieben, bleibt nur noch zu sagen, dass er ziemlich jung war, höchstens Anfang Zwanzig, und den Kopf ratzekahl geschoren hatte. Mit dem Lotussitz hatte er Übung. Der andere war etwas älter, ungefähr so alt wie ich, ein großer schlanker Bursche mit schulterlangen Haaren, der richtig gut aussah. Gekleidet war er ganz in Weiß: langes Hemd mit Stehkragen, das er über der Hose trug, weite weiße Hose und handgenähte weiße Wildleder-Mokassins. Die und auch der untere Teil der Hose hatten vom Matsch böse Ränder bekommen.
Ich habe gesagt, er saß, aber das stimmt nicht ganz. Er kniete, so wie es die Japaner tun. Als wir den Raum betreten hatten, hatte er uns einen kurzen Blick zugeworfen. Jetzt starrte er wieder unbeweglich auf die Wand ihm gegenüber. Ich warf verstohlen einen Blick dorthin, konnte aber nichts Bemerkenswertes erkennen. Daher ging ich zum Fenster, denn das Draußen war ein interessanterer Anblick als die Struktur der Tapete. Ich sah in den Garten hinter dem Haus, er war tief verschneit, obwohl der Schnee langsam taute. Hier wuchsen Bambus und eine Menge Sträucher, und einen Gartenteich gab es auch.

Ich sah einer Amsel zu, die Beeren von einem der Büsche kniff, als plötzlich jemand durch den Bambusvorhang trat. Es war kein weiterer Schüleranwärter, wie ich erst gedacht hatte, sondern ein Asiate, ungefähr in dem Alter wie die Frau, die uns empfangen hatte. Er war nicht groß, aber breitschultrig und kräftig, gekleidet in eine schwarze Hose und ein schlichtes dunkelblaues Hemd.
„Guten Morgen, meine Herren“, sagte er. „Sie möchten Schüler von Meister Wang werden?“
Wir drei nickten heftig.
„Meister Wang wird Sie gleich empfangen, aber vorher möchte ich Ihnen einige Fragen stellen. Ist Ihnen das recht?“
Wieder nickten wir.
„Gut. Zuerst: Was erwarten Sie sich? Warum sind Sie auf der Suche nach einem Meister, der Sie leitet?“
„Ich suche Erleuchtung“, sagte Gelbkutte eifrig. „Ich meine, ich suche die endgültige Wahrheit, die Erkenntnis, die mich von allen irdischen Dingen befreit, damit ich aufgehen kann in dem großen ... äh ... Dings ... All-Einen, irgendwie.“
Der Weiße warf ihm einen Blick zu, der ein ganz klein wenig verächtlich war. „Ich maße mir nicht an, schon soweit zu sein“, sagte er mit einer wirklich sehr klangvollen Stimme. „Nein, ich versuche erst einmal mein eigenes Selbst zu bilden. Ich suche Vollkommenheit, Vollkommenheit und Reinheit im Einklang mit der Natur und allen Wesen darin, von den h öchsten bis zu den niedrigsten. Die vollkommene Harmonie.“
„Sehr schön“, meinte der Herr in Blau. „Und Sie?“ Er sah mich erwartungsvoll an.
„Es ist schwierig, zu erklären, was ich suche, weil ich es nicht in Worte fassen kann“, antwortete ich.
„Sie wissen es nicht?“
„Nein, ich weiß es sehr genau. Ich kann es nur nicht in Worte fassen. Es ist ... die Ordnung der Dinge, das, was hinter allem steht, der Sinn und die Wurzel ... aber das trifft es nicht. Ich denke, es ist zu groß und zu tief für Worte. Es ist einfach zu mächtig, als dass man es eintüten und mit einem Etikett versehen könnte. Denke ich.“
„Aha“, sagte er nur. Die beiden anderen sahen mich mitleidig an. Na gut, wahrscheinlich war ich hiermit durchgefallen. Was soll's. Auch daraus kann man etwas lernen.
Der Herr in Blau stellte seine nächste Frage. „Was möchten Sie von Meister Wang lernen?“
Diesmal antwortete der Weiße zuerst. „Wie schon gesagt, ich möchte, dass er mich lehrt, vollkommen zu sein. Ich möchte lernen, meine Kräfte zu sammeln und richtig anzuwenden, zum Besten aller Wesen selbstverständlich. Ich möchte die vollkommene Beherrschung meiner selbst erlangen. Und ich möchte wissen, wie es möglich ist, die Welt und die Dinge in ihr so zu lenken, dass alles der großen Ordnung folgt.“
Der Herr in Blau warf Gelbkutte einen fragenden Blick zu.
„Ja, äh...“ Gelbkutte war verlegen. „Also, ich möchte alles lernen, was man wissen muss über das All und die Einheit und was man machen muss, um es zu erkennen und sich darin einzufügen. Damit man ein Teil davon wird. Wie man es richtig macht, eben.“
Der Herr in Blau nickte zustimmend und ich wusste, ich war dran. „Ich habe mir eigentlich noch nicht überlegt, was ich lernen will. Ich denke, Meister Wang wird wissen, was ich lernen muss und wie er es mir beibringt. Schließlich ist er der Meister und ich bin der Schüler. Ich überlasse das ihm.“
„Gut“, sagte der Herr in Blau. „Noch eine Frage: Warum von allen möglichen Lehrern Meister Wang?“
Gelbkutte strahlte. „Er ist der größte lebende spirituelle Meister. Er ist einfach der größte Meister überhaupt. Es gibt keinen besseren, keinen, der mehr weiß, keinen, der tiefer in die letzten Geheimnisse eingedrungen ist. Von niemandem kann man so viel lernen wie von ihm.“
Der Weiße nickte gemessen. „Dem habe ich nichts hinzuzufügen. So ist es.“
Ich kratzte mich am Hinterkopf. „Wenn ich ehrlich bin, dann weiß ich fast nichts über Meister Wang. Ich habe keine Ahnung, ob er mir beibringen kann, was ich suche, aber ich brauche einen Lehrer, er sucht Schüler, und die Gelegenheit war zu gut, um sie einfach vorbeigehen zu lassen. Ich muss aber erst sehen, ob ich mit ihm auskomme – wenn er mich denn überhaupt als Schüler will.“
Was ich mir wahrscheinlich gerade mit dieser Antwort endgültig versiebt hatte. Meine beiden Mitbewerber waren anscheinend auch dieser Meinung und sahen mich einigermaßen mitleidig an. Am Gesicht der Herrn in Blau war nichts abzulesen. Er gab auch keine Antwort. Statt dessen forderte er uns freundlich auf, ihm zu folgen.
Es ging wieder durch die Eingangshalle, tiefer in den inneren Teil des Hauses. Wir landeten vor einer breiten Flügeltür, die geschlossen war.
„Bitte warten Sie hier noch einen kleinen Augenblick. Sobald der Gong ertönt, treten Sie ein. Meister Wang wird dann bereit sein, sie zu empfangen“, sprach unser Führer und verschwand durch eine Tür ein Stück weiter die Halle hinunter.
Wir warteten, aber ich glaube, es dauerte keine dreißig Sekunden, dann erklang der Gong. Der Weiße stieß energisch die Tür auf, und wir traten ein.

Der Raum war groß, hell, offen und fast leer. Auf dem Boden lagen federnde Grasmatten, und hinten war eine Art Podest, etwa eine Handbreit höher als der Rest des Raumes. Dort saß Meister Wang. Er trug ein seidenes Hemd mit Stickerei statt des einfachen blauen, aber die gleiche Hose. Es war unser Herr in Blau aus dem Wartezimmer.
Ich war nicht überrascht. Es war nicht so, dass ich es erwartet hatte, aber ich war nicht überrascht. Ich weiß nicht warum, aber es passte.
Er lächelte uns freundlich zu. „Bitte setzen Sie sich.“
Wir taten es – diesmal auch ich. Ich wählte den Schneidersitz.
„Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie im Unklaren ließ, aber vor einem einfachen Mitarbeiter sprechen die Menschen viel freier als vor dem großen Meister selbst. Ich weiß jetzt einiges über Sie, und ich bin fast entschlossen, einen von Ihnen – nur einer kommt in Frage – als Schüler anzunehmen. Nur eine Antwort brauche ich noch, damit ich die endgültige Entscheidung treffen kann. Wie ist es: Würden Sie als Schüler jede, wirklich jede der Anweisungen Ihres Meisters sofort und ohne Einwände befolgen?“
„Aber natürlich!“ riefen die beiden anderen im Chor. Ich schwieg.
„Ihre Antwort?“ fragte Meister Wang mich direkt.
„Nein. Ich meine, meine Antwort ist nein. Nein, ich werde nicht jede Anweisung ohne Widerrede ausführen. Es gibt Dinge, die ich nicht tun werde, ganz egal, wer sie von mir verlangt.“
Die beiden anderen starrten mich geradezu entsetzt an, und Gelbkutte platzte heraus: „Aber Meister Wang, der große Meister Wang, wird doch niemals von dir etwas verlangen, was gegen dein Gewissen ist oder wie du das meinst. Er doch nicht!“
„Kann schon sein, aber das war nicht die Frage. Die Frage war, ob ich jede Anweisung meines Meisters ausführen würde. Und darauf ist meine Antwort nein. Überhaupt, ich möchte keinen Meister haben, der solche Bedingungen stellt.“
Ich stand auf, verneigte mich und wollte gehen. Meister Wang stand ebenfalls auf.
„Und ich möchte keinen Schüler, der solche Bedingungen fraglos akzeptiert. Bitte bleiben Sie. Und was die anderen beiden Herren angeht“ – er wandte sich an Gelbkutte und den Weißen – „so sehe ich keinen Sinn darin, Sie etwas zu lehren. Da Sie“ (damit war der Weiße gemeint) „schon so genau wissen, was Sie suchen und was Sie lernen wollen, so wird es Ihnen auch ohne Lehrer nicht schwer fallen, dies zu finden. Und Sie“ (das galt Gelbkutte) „sollten sich erst einmal darüber klar werden, was Sie sind und was Sie suchen. Denn Sie sind nicht, was man Ihnen sagt, was Sie sind, und was Sie suchen, ist in Ihnen. Ich wünsche Ihnen beiden trotzdem von ganzem Herzen viel Erfolg auf Ihrem weiteren Weg durch das Leben.“
Die beiden standen auf und sahen sich verlegen um, aber das war es für sie. Schließlich begriffen sie, dass sie soeben verabschiedet worden waren, und gingen. Der Weiße wurde feuerrot im Gesicht und sah gleichzeitig empört aus und so, als wolle er am liebsten im Boden versinken. Gelbkutte wirkte eher verdutzt und ziemlich nachdenklich.

Sie gingen, und ich blieb. Meister Wang legte den Kopf schief und sah mich an.
„Jetzt komme ich zu dir, und du bist ein Problem anderer Art. Nicht, dass ich dich als Schüler nicht will – wenn du mich als Lehrer willst, heißt das. Aber ich frage mich, ob ich dich überhaupt etwas lehren kann. ‘Das, was benannt werden kann, ist nicht der wahre Weg’. Du hast, scheint es, den wahren Weg schon gefunden.“
„Habe ich? Mir kommt es nicht so vor. Und ich weiß, dass ich noch eine verdammte Menge nicht weiß. Ich denke, Sie könnten es mich lehren.“
„Denkst du? Auch das, was ich weiß, ist nur wenig gegen die Unendlichkeit dessen, was es zu wissen gibt. Nun, dann sollten wir meine und deine Unwissenheit zusammenwerfen und sehen, ob wir gemeinsam zu etwas mehr Einsicht gelangen können. Magst du Tee?“
Ich nickte.
„Dann wollen wir in die Küche gehen und uns einen Tee kochen“, meinte er, und wir gingen und kochten Tee und tranken ihn und unterhielten uns, und ich begann zu lernen. So wurde ich Schüler von Meister Wang.

© P. Warmann