Nachbarn.

Mit seinen Nachbarn kann man Glück haben, oder eben auch nicht. Mein Blick geht hinten raus (dritter Stock, Altbau) zuerst über einen niedrigen Schuppen, in dem ein geheimnisvoller Geistergeiger nachts übt. Man sieht ihn nie, man hört ihn nur.
Der Hof dahinter endet an einem Haus, in dem jemand wohnt, der so langsam völlig abdreht. Tagsüber sind die Rollläden heruntergelassen, nachts wird er zur Plage der gesamten Nachbarschaft. Entweder ist seine Freundin da, dann streitet er sich mit ihr. Oder sie ist nicht da, dann spielt er Musik. Maximal laut. Bei offenem Fenster. Immer dieselbe Platte (80er-Pop). Und wenn Madonna dann ‘Like a Virgin’ singt, dann beschimpft er sie als Schlampe. Laut, bei offenem Fenster und so weiter. Danach randaliert er noch ein wenig wortlos und fällt um.
Daran sind wir inzwischen gewöhnt, aber neuerdings schießt er auch. Ich kann ihn sehen, wie er durch sein Zimmer tigert und in den Boden ballert. Möglicherweise sind es auch nur Platzpatronen...
Oder auch nicht. Vor einigen Nächten um halb Zwei riss er wieder die ganze Nachbarschaft aus dem Schlaf. Er brüllt, die Freundin keift, Glas klirrt. Ich trete ans Fenster und sehe etwa sechs Polizisten plus Hund das Haus betreten. Alles das in Mondlicht gebadet und mit Geigenklängen unterlegt (der Geistergeiger, wie erwähnt). Wenn man das als Drehbuch anbieten würde, würde es abgelehnt, weil zu wirklichkeitsfremd.
Es wird ruhig, ich schlafe ein. Gegen Vier wache ich auf – Schüsse. Er brüllt, er schießt, sie kommentiert das gelangweilt mit „ja, toll!“. Gekeife, Geklirre, wieder Schüsse, und plötzlich brüllen beide „Ohargh!“. Anscheinend hat er sich in den Fuß geschossen. Wenigstens ist es jetzt still und ich kann endlich schlafen.
Nachtrag: Der Krankenwagen kam am nächsten Morgen. Mein Nachbar wurde blass und mit irrem Blick aus dem Haus getragen. Er wird wohl nicht zurückkehren: Die Zimmereinrichtung liegt auf dem Sperrmüll, und sein Vermieter streicht gerade die Wände.

© P. Warmann