Belauscht.

Wer sich durch die Stadt bewegt, hört mit. Zum Beispiel dies:

Ein Pärchen in einem Laden für Spiele-Software für PC und Konsolen, beide nicht mehr jung, gekleidet in Jeans und Wildleder, er mit Zopf.
Er, enthusiastisch: Und Intel will noch in diesem Jahr einen neuen Quadcore-Prozessor rausbringen...
Sie unterbricht, merklich un-begeistert: Ich hatte letztlich eine Triplecore-Walnuss.
Er lacht.
Sie: Doch, da war ein Dreifachkern in der Schale, sehr cool.
Er lacht, dann: Eigentlich bin ich ja nur hier, weil ich nach dem neuen World-of-Warcraft-Kalender suche. Ich habe gelesen, dass der erschienen ist...
Sie: Hier bekommst du den nicht.
Er: Doch, in der Zeitschrift stand ‘Jetzt in allen guten Spielegeschäften’.
Sie: Ja. Also nicht hier.

Oder in einem kleinen Laden mit Allerlei für Küche und Bar, darunter auch Dinge wie Nudeln in Form von ‘Happy Birthday’-Schriftzügen oder quietschbunter Krümelkandis. Es erscheint eine noch sehr junge Verkäuferin und spricht ihre Kollegin an:
V1: Sag mal, wo ist der Staubsauger?
V2: Hinten in der Abstellkammer. Wieso brauchst du den?
V1, kichernd: Ich habe den Zucker eingescannt.

Oder auf dem Jahrmarkt, an einer Bude, wo man versuchen kann, Plüschtiere mit einem ferngesteuerten Greifer aus einem Glaskasten zu ziehen.
Ein Mädchen: Was ist denn das für ein Spiel?
Die Mutter: Da kann man hässliche Stofftiere mit einer Kralle zerdrücken.

Oder auf der Straße, wo ein Mann, Typ Nichtsesshafter, etwa Mitte 30 mit ordentlich gepacktem Rucksack, einer jüngeren Frau, Typ Drogenabhängige, fröhlich erklärt:
Er: Nein, seit ich im Knast auf einem richtigen Bett geschlafen habe und nicht immer so mit angezogenen Beinen wie auf der Couch, seitdem kann ich problemlos in normalen Betten pennen.

Mitgehört beim Zahnarzt:
Zahnarzt: Die Füllung muss noch aushärten, seien Sie also etwas vorsichtig, Sie kennen das ja...
Patientin: Ja, ich weiß: in der nächsten Stunde nichts essen, nichts trinken und niemanden beißen.

Fußball ist sowieso immer ein dankbares Thema:
Einer: Heute wird ein Länderspiel übertragen, siehst du dir das an?
Der andere: Wer spielt denn?
Der erste: Unsere gegen die anderen.

Oder ein wenig philosophischer:
Einer: Sehen wir uns nachher zusammen das Fußballspiel an?
Der andere: Weiß noch nicht...
Der erste: Wieso?

Oder ein Beispiel geglückter Integration:
Während der Fußball-Europameisterschaft 2012. Ein Mann spricht laut in sein Handy, mit deutlichem ausländischen Akzent.
Mann: Oh ja, Fußball ... Meine Frau trägt Unterwäsche von Deutschlandflagge!

Manchmal verhört man sich auch, dann hört man Sätze wie diese:
Einer: Wie alt, sagtest du, wird dein Bruder?
Der andere: Gut drei Meter achtzig.
oder in der Bettenabteilung eines Kaufhauses:
Verkäufer: Das ist ein besonders schönes Kissen, die Füllung enthält 30% Dornen.
oder:
Einer: Du kannst die Gabel ruhig mittoasten.

Manche Gespräche bringen einen dazu, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen:
An einem kalten, aber sonnigen Oktobertag steht an der Bushaltestelle der Universität eine Frau in Sari und Kamelhaarmantel. Eine andere Studentin kommt mit ihr ins Gespräch.
Studentin: Woher sind Sie?
Studentin im Sari: Aus Bangladesch.
Studentin: Oh, dann muss dieses Wetter ja fürchterlich für Sie sein.
Studentin im Sari: Oh nein, ich habe immer in Büchern gelesen, wie das sein soll, wenn sich im Herbst die Blätter verfärben und von den Bäumen fallen, aber ich habe mir das nie vorstellen können. So romantisch!

Gute Dialoge hört man auch im Bus, etwa zwischen zwei Rentnern:
R1: Meine Enkelin wird morgen vier, ich habe gerade ein Geschenk für sie besorgt.
R2: Was bekommt sie denn?
R1: Einen Hammer.
R2: Einen Hammer?
R1: Ja, sie schleppt immer mit dem großen Hammer von ihrem Vaters herum, das ist doch nicht gut. Da habe ich ihr jetzt einen netten kleinen Edelstahlhammer gekauft, ganz für sie alleine.

Sehr schön sind auch die familieninternen Gespräche, etwa dieses zwischen Onkel und Neffen:
Onkel: Deine Freundin heißt also Lia?
Neffe: Das ist natürlich eine Abkürzung, ich nenne sie lieber so als ‘Liane’.
Onkel: ‘Liane’ ist ein Gewächs.
Neffe: Eigentlich ist ihr richtiger Vorname Liliane.
Onkel: ‘Liliane’ ist ein Gewächs, das stottert.

Bei selbigem Herren, der eine recht wilde Jugend gehabt haben soll, entdeckte ich auf der Flurgarderobe einen wuchtig aussehenden Messingschlagring.
Ich: Schlagringe sind doch verboten?
Er: Das ist kein Schlagring.
Ich: Ach ja?
Er: Nein, der ist voll resozialisiert und hat auf Briefbeschwerer umgeschult.

Und dann sind da noch meine zwei Lieblingsszenen:

Die erste: Ehepaar in den Fünfzigern, Typ gut gekleidete Handwerker, sie gut aussehend mit langen Haaren, sitzt im Restaurant vom Baumarkt und isst Bratkartoffeln mit Sülze. Sie unterhalten sich über den Betrieb, dann über die erwachsenen Kinder. Schließlich kommt die Rede auf den ältesten Sohn:
Sie: Er hat mir erzählt, er hat neulich mit seiner Frau zum ersten Mal E genommen.
Er, unbeeindruckt: Und? Hat es ihm gefallen?
Sie: Er sagt, ja... Aber ich weiß nicht, ich habe das Zeug damals auch probiert, und ich fand, das sind eher so Kinderpillen.
Er, lebhaft: Nicht wie das, was wir genommen haben, hm? Zwei Pillen, und du bist die ganze Nacht geflogen, geflogen, geflogen ... und morgens gab’s dann ’ne haaarte Landung.
Pause, dann er, sachlich: Ist aber nicht gut für’s Herz.
Sie, nachdenklich: Ich weiß gar nicht, ob es sowas heute überhaupt noch zu kaufen gibt. Die jungen Leute wollen doch gar nicht fliegen, die wollen mehr so ’nen Lala-Rausch. Und ’ne harte Landung machen will bestimmt keiner.
Er, voller Verachtung: Nee. Die wollen chillen.

Die zweite: In einem teuren Kaufhaus, Bademoden-Abteilung. Am Wühltisch mit den herabgesetzten Bademoden erscheint ein Paar Mitte Dreißig, Typ Kiez, aber nicht billig, er groß, breitschultrig, mit dunklen, zurückgekämmten Haaren und teurer schwarzer Lederjacke, sie blondiert, nicht mehr ganz schlank, mit hautengen Jeans und tiefem Ausschnitt. Dazu etwa drei Kinder – das lässt sich nicht genau sagen, da die Kinder die ganze Zeit zwischen und unter den Tischen und Kleiderständern Verstecken spielen.
Das Paar übernimmt den Wühltisch, sucht aus, vergleicht, bewertet – alles sehr laut. Dann und wann ergehen (laute) Anweisungen („Kevin, komm dahinter raus“) an die Kinder, die übrigens sehr leise spielen und die Anordnungen erstaunlicherweise stets sofort befolgen.
Irgendwann kommt das älteste Kind, ein Mädchen von etwa acht Jahren, zur Mutter und spricht sie an:
Kind: Mama, die Frau da hat...
Vater, unterbricht, sehr laut: Das heißt nicht ‘die Frau’, das heißt ‘die Dame’.

© P. Warmann