Das Wetter wird wärmer, die Ärmel und Hosenbeine kürzer. Man
sieht mehr Haut, und das heißt, mehr Tätowierungen kleine,
große, neue, halb fertige, eher misslungene, ziemlich schicke oder einfach
nur bunte. Da gibt es tätowierte Fußkettchen, ärmelüberzieherartige
Bilderfluten von der Schulter bis zum Handgelenk oder einfach nur einen Schmetterling
auf der Schulter. Manche werfen Fragen auf: Was sollen die chinesischen Zeichen
bedeuten, die sich bei einem eher konservativ gekleideten Verkäufer vom
Ohr den Hals hinunter ziehen? Und wer soll sie lesen? Warum trägt dieser
eher rundliche junge Mann mit buschigem Bart einen Tabaluga auf dem Bein?
Hat der etwas verwahrlost wirkende Typ mit der klassischen Knastträne
sich damals wirklich genau überlegt, was er da tat? Und warum ist die
Verkäuferin im gehobenen Herrenmodengeschäft so erstaunt, als sie
entdeckt, dass er ohne zu bezahlen eine Jacke hat mitgehen lassen? Konnte
sie die Zeichen nicht lesen?
Andere Tätowierungen erzählen etwas über ihren Träger.
Da keift eine deutlich zu dicke, merklich zu schlampig gekleidete junge Frau
über ihren Kinderwagen hinweg die Freundin an und trägt ein halbfertiges
Tribal auf der Wade, angefangen und nie zu Ende tätowiert ... da war
jemand mal jung und wild und hatte Pläne, wollte ganz sie selbst sein,
cool und schick und herausfordernd, und hat das alles durch die Finger gleiten
lassen wie Sand... Das ist traurig.
Oder andersherum: Ein Mann, grauhaarig, sorgfältig gestutzter Schnurrbart,
sehr schlank, Jeans und ein schwarzes T-Shirt ohne Ärmel und ein filigranes,
extrem gut gemachtes keltisches Muster um den Oberarm. Charakter.
Und dann ist da dieses Rentner-Ehepaar im Supermarkt, offensichtlich wohlhabend,
in Rentnerbeige gekleidet, er mit Weste, sie mit dem Bloß-keine-Dauerwelle-alte-Damen-Kurzhaarschnitt.
Sie suchen fröhlich den Aufschnitt aus, ein bisschen zu schick gekleidet
fürs Einkaufen, also wahrscheinlich Urlauber (wir sind hier in der Nähe
der Ostsee), in einer Ferienwohnung vermutlich. Sie könnten erfolgreiche
Handwerker sein, aber ... auf seinem Unterarm ist eine Tätowierung, groß,
farbig, offensichtlich alt, mit den Jahren verblasst und ein wenig verwischt.
Trotzdem noch gut zu erkennen ein Klassiker: Dolch mit Schlange.
Der Dolch steht auf der Spitze, die Schlange ist grün, windet sich darum
und sieht dich an. Keine Kobra, keine gefletschten Fangzähne, und es
muss auch kein Blut vom Dolch tropfen. Dies ist ein Klassiker, und die Botschaft
ist klar.
Und ich frage mich: Wer warst du? Denn wenn du dir die Schlange in dem Alter
hast tätowieren lassen, in dem man das gewöhnlich macht, so mit
Mitte bis Ende Zwanzig, wie lange ist das dann her? Vierzig Jahre? Also Anfang
oder Mitte der 1970er...
Nun trägt ja heute jede Abiturientin einen Drachen auf der Wade, aber
damals hatten Tätowierungen noch eine Bedeutung. Im Großen und
Ganzen waren nur drei Gruppen von Männern tätowiert. Einmal natürlich
Seeleute. Die trugen Anker, Schiffe unter vollen Segeln oder einen Leuchtturm,
und manchmal auch eine exotische Schönheit im Grasrock neben einer Palme,
und drüber stand ?Hawaii, denn da waren sie mal gewesen. Oder wollten
zumindest mal hin.
Zweitens gab es die, die sich irgendwie für rauhe Burschen hielten, Bauarbeiter
oder Fernfahrer und andere Leute, die ihre Muskeln von der Arbeit hatten.
Die trugen Schriftbänder mit ?Monika oder ?Mutti, einen schiefen
Kölner Dom, weil sie aus jener Stadt stammten, ein gebrochenes Herz oder,
wenn sie tatsächlich Geschmack hatten, vielleicht eine Rose.
Und alle diese Tätowierungen waren freundlich, ein Zeichen dafür,
was im Leben eines Menschen geschehen war, was er mochte und was er wollte.
Aber ein Dolch mit Schlange ... das war eine Ansage. Die so etwas trugen,
besonders so groß wie diese Tätowierung hier, auf dem Unterarm,
und bunt, so dass sie jeder sehen konnte, jeder bemerken musste, das
waren nicht nur rauhe Typen, die waren gefährlich. Mit denen legte sich
niemand an außer solchen, die selbst einen Dolch mit Schlange trugen,
und die Polizei kam zu ihnen immer gleich mit zwei Streifenwagenbesatzungen.
Also, wer warst du? Vielleicht einer von den damaligen Rockern, den echten,
die nicht nur Leder und lange Haare trugen, sondern sich auch mit Fahrradketten
die Fresse einschlugen? Oder einer von den Jungs vom Kiez, von denen man wusste,
dass sie bei einem vorbeikommen würden, wenn man sich mit diesem oder
jenem anlegte? Und wie ist aus dir der nette Rentner in Opabeige geworden?
Was du warst, was du bist, und wie aus dem einen das andere wurde ... oder
ist die Frage vielleicht falsch gestellt? Sollte sie heißen: Wer bist
du? Denn du hast die Tätowierung nie entfernen lassen, du trägst
sie immer noch, offen und unverdeckt, ohne Verlegenheit und mit Stolz
immer noch eine Botschaft für alle, die sie lesen können?
© P. Warmann