Hamlet.

Hamlet, so sprechen die Gelehrten, Hamlet ist der große Zauderer (auch das Wort handlungsunfähig fällt). Er erfüllt seine Aufgabe nicht. Er scheitert an seinem Zögern. Das ist auch gut so, sagen sie, denn er wäre unfähig, den Staat zu regieren. Seine Gegenspieler sind die Tatmenschen Laertes und Fortinbras.
Ach ja? Haben die Herren jemals den Hamlet gelesen? Oder in einer werkgetreuen Aufführung gesehen? Im Original, versteht sich. Oder kennen sie nur die deutsche Übersetzung und die vielen, vielen Bücher, die über Hamlet geschrieben wurden?

Zerpflücken wir ihre Argumente. Was ist das Thema des Stückes? Oder genauer, was ist die Tendenz, mit der das Stück geschrieben wurde? Welche Belehrung sollte der Zuseher empfangen, der damals ins Theater ging und sich das Stück ansah wie wir heute einen Film? Sie wollten sich unterhalten, diese Menschen damals. Daher musste die Geschichte spannend sein, wie ein Kriminalfall. Sie sollte aber auch eine Moral enthalten, eine allgemeingültige Weisheit, so dass der Besucher unterhalten und seelisch gestärkt nach Hause ging. Und wir dürfen nicht vergessen: Der Zuschauer damals sah das Stück wie ein Kind von heute den ‘Dritten Mann’: Er kannte den Ausgang nicht!
Hamlet ist, wie jede Tragödie, das Stück eines Menschen, der einen Zwiespalt fühlt. Es ist aber auch die Geschichte eines Mannes, der in der eigenen Familie einem Mord auf die Spur kommt. Es ist also auch ein Kriminalthriller. Wir wollen den Ablauf des Geschehens unter diesem Gesichtspunkt betrachten.
Wie fängt die Geschichte noch an? Hamlet kommt an den Hof seines Geschlechtes zurück, er wurde gerufen. Sein Vater, der alte König, starb plötzlich und unerwartet. Nicht Hamlet, sein Onkel hat die Nachfolge angetreten. Das ist für sich genommen eigentlich in Ordnung, denn in Dänemark wurde zu dieser Zeit der König gewählt, warum also nicht der Bruder des verstorbenen Königs statt des jungen, unerfahrenen Sohnes. Hamlet ist es auch recht, besonders, da sein Onkel keine Kinder hat und Hamlet schließlich doch den Thron besteigen wird.
Allerdings gibt es da einige Dinge, die ihn misstrauisch machen. Einmal ist sein Vater sehr plötzlich gestorben, woran, ist nicht ganz klar. Zum anderen hat seine Mutter sehr kurz danach den Onkel geheiratet – schneller, als schicklich gewesen wäre. Hamlet hat einen Verdacht, aber es gibt keinen Grund zum handeln – auch nicht, als sein Verdacht durch Kleinigkeiten bestärkt wird.
Dann aber kommt es knüppeldick: Der Geist seines Vaters erscheint ihm und erzählt die ganze Geschichte. Da, seht! schreien die Gelehrten. Jetzt weiß er es, jetzt muss er handeln! Und beweisen damit, dass sie nur die Ritterschauerdramen des 19. Jahrhunderts kennen. In denen tritt nämlich gerne der Geist eines Ritters oder der Ahnfrau auf und enthüllt ein Geheimnis. Diese Art Gespenst lügt nie. Man kann sich auf seine Aussage verlassen wie auf ein heimlich aufgenommenes Videoband der Tat. Aber der Geist von Hamlets Vater... Er sagt die Wahrheit; das wissen aber nur wir, und das auch nur, weil wir das Stück kennen. Für Hamlet und für das Publikum der Entstehungszeit (das, wie gesagt, nicht weiß, wie die Geschichte ausgehen wird) sieht die Sache anders aus. Entweder ist es der Geist von Hamlets Vater, und er sagt die Wahrheit. Dann muss Hamlet handeln.
Viel wahrscheinlicher ist aber, dass es sich um ein Blendwerk des Teufels handelt, der Hamlet dazu verführen will, Unschuldige zu meucheln und damit sein Seelenheil zu verwirken. Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern wird im Stück selbst immer wieder betont. Hamlet kann sich also auf die Aussage des Geistes nur verlassen wie auf einen anonymen Brief: Sie kann stimmen, muss aber nicht.

Was tut er also? Er wartet ab und sammelt Beweise. Er redet mit Leuten, belauscht Leute, fragt. Und macht sich dabei den Schuldigen verdächtig. Wenn die schon einmal gemordet haben, könnten sie es wieder tun. Um dieser Gefahr zu entgehen, spielt er den Verrückten. Wenn er ab jetzt als melancholisch oder trübsinnig bezeichnet wird, so heißt das nicht, dass er schwere Depressionen hat. Es ist einfach eine höfliche Art, von jemandem zu sagen, er sei nicht ganz dicht.
Hamlet sammelt weiter Beweise. Die Schuldigen fahren Stück für Stück schwerere Geschütze auf, um ihn auszuforschen und abzulenken. Zuerst lassen sie seine beiden Studienfreunde Rosenkranz und Güldenstern einfliegen. Hamlet kommt kurz der Gedanke, er habe neutrale Vertraute gefunden. Ein kurzer Test beweist das Gegenteil. Da die beiden ihm geistig überhaupt nicht gewachsen sind, kann er sie ignorieren. Am Schluss, als sie sich als wirkliche Verräter erweisen, serviert er sie höchst elegant ab.
Ophelia dagegen... Ophelia ist schon eher eine Gefahr. Hamlet empfindet wirklich etwas für sie. Ophelia ist die wirklich tragische Figur des Stückes, wirklich eine, die in einen unlösbaren Zwiespalt gerät. Sie empfindet zu wenig für Hamlet, um sich auf seine Seite zu schlagen, und zu viel, um ihn auf Dauer zu täuschen. Zwischen Vater, Königin und Hamlet kann sie sich nicht entscheiden und tut das, was tragische Figuren in so einem Fall tun müssen: Sie bringt sich um.
Hamlet ist darüber vor Trauer außer sich. Warum eigentlich? Die Frage ist erlaubt, denn es wirkt wirklich etwas übertrieben. Hat er sie so geliebt? Davon war eigentlich nichts zu merken. Mein Vorschlag: Ihn packt eine ungeheure Wut darüber, dass so ein junger unschuldiger Mensch nur wegen dieser nichtswürdigen Intrige zu Tode kam.
Das passt in das Thema von Hamlet, das da heißt: Hat der Tod einen Sinn? Wozu lebe ich? Warum bin ich am Leben und nicht tot? Mein Vater ist tot und wird nicht wieder lebendig, was also erreiche ich, wenn ich den Mörder töte? Welchen Sinn hätte das? Worin liegt der Sinn des Lebens? Oder der des Todes? Und Ophelias Tod ist ganz sicher Sinn-los.

Zu diesem Zeitpunkt der Geschichte ist Hamlet ziemlich sicher, dass er wirklich einem Mord auf der Spur ist. Er hat die Schuld zumindest des Königs mit dem Theaterspiel auf geniale Weise bewiesen. Jetzt muss er nur noch ein paar lose Fäden zusammenknüpfen. Dazu gehört vor allem die Frage: In wie weit war seine Mutter dara beteiligt? Was wusste sie?
Übrigens ist auch das ein guter Grund für Hamlets Zögern. Nur ein verdrehter Kopf kann fordern, dass er seine Mutter kaltlächelnd abwürgt.

Hamlet ist also kein negativer Zögerer und Zauderer, schon gar nicht ist er handlungsunfähig. Er ist ein Mann, der in einer schwierigen und für ihn gefährlichen Situation Beweise sucht. Auch ist er ganz sicher kein schwächlicher Gelehrtentyp. Wenn er (an Ophelias Grab zu Laertes) sagt: ‘I prithee take thy fingers from my throat. For, though I am not splenitive and rash, yet have I in me something dangerous, which let thy wisdom fear. Hold off thy hand’, dann ist das wörtlich zu nehmen. Wenn er beschließt zu handeln, ist er ein gefährlicher Feind (man erinnere sich an Rosenkranz und Güldenstern, die mit dem gefälschten Brief ihrer Hinrichtung entgegenreisen). Auch körperlich ist er auf der Höhe. Er rechnet sich gegen Laertes, einen der besten Fechter im Königreich, gute Chancen aus, und beweist das auch im Kampf. Als die Wirkung des Giftes einsetzt, steht das Gefecht eins zu eins.
Gut, Hamlet ist ein Grübler. Er ist aber sicher kein Zauderer, und schon gar nicht ein schwächlicher Zauderer. Und die angeblich so tollen Tatmenschen Laertes und Fortinbras?
Laertes ist eigentlich ganz sympathisch. Er wäre noch viel sympathischer, würde er halb so schnell handeln, wie er es tut, und wenigstens halb so viel nachdenken wie Hamlet. Dann würde er sich nicht zu einem heimtückischen Mord, und nichts anderes ist der Trick mit dem vergifteten Degen, anstiften lassen. Da er aber ohne zu zögern handelt, bekommt er die Quittung.
Und Fortinbras? Der ist nur dazu da, dem Publikum am Ende eine brennende Frage zu beantworten: Wer übernimmt jetzt, da die Dynastie auslöscht ist, die Herrschaft im Reich? Dass er vorher schon einmal erwähnt wird, zeigt nur den guten Dramaturgen Shakespeare. Denn wie lautet noch eine dramaturgische Grundregel: Jede Person, die zur Lösung beiträgt, muss früher im Stück schon eingeführt worden sein.

© P. Warmann