Ich hatte Alex einige Zeit nicht gesehen und beschloss spontan ihn zu
besuchen. Als er mir die Tür aufmachte, sah er etwas angeschlagen
aus.
Komm rein, sagte er, ich habe mir gerade einen Tee gemacht.
Möchtest du auch einen?
Danke, nein. Was ist mit dir los? Hat dich die Erkältung erwischt?
Ich hatte sie auch.
Dann kann ich dich wenigstens nicht anstecken. Er führte
mich ins Wohnzimmer und ließ sich in einen Sessel sinken. Es
hat mich richtig erwischt: Husten, Halsweh, Heiserkeit. Und eine fiese
Nebenhöhlenentzündung. Mir tut alles weh, hier
er zeigte auf seinen linken Wangenknochen und hier und hier.
Diese beiden Stellen lagen eine Handbreit kopfauswärts von seinem
rechten Ohr und mindestens zwanzig Zentimeter vor der Stirn.
Da tut es dir weh? fragte ich ziemlich verblüfft. Alex,
gewöhnlich sitzen die Nebenhöhlen im Kopf.
Was glaubst du wohl, warum die Nebenhöhlen heißen?
Offensichtlich haben die mehr als drei Dimensionen und gehen daneben noch
weiter. Jetzt habe ich sechsdimensionale Kopfschmerzen, und dreidimensionale
Kopfschmerztabletten helfen da nicht wirklich. Das kann auch nur mir passieren!
Da gab ich ihm im Stillen Recht.
Alex nahm einen Schluck von seinem Tee. Ach, ich komme zu gar nichts,
klagte er. Das Slowboard ist auch viel zu spät fertig geworden.
Es verkauft sich aber trotzdem bestens, auch wenn die Wintersportzeit
schon fast vorbei ist.
Was ist ein Slowboard?
Wie ein Snowboard, nur langsam. Ich meine, was zählt denn beim
Skifahren? Die Zeit auf der Piste! Und was geschieht? Wusch, und du bist
unten und darfst dich wieder am Lift anstellen. Sich auf die flachen Pisten
zu beschränken macht aber auch keinen Spaß. Genau da setzt
das Slowboard an: Du kannst auf beliebig steilen Hängen beliebig
langsam fahren. Du bestimmst über deine Zeit auf der Piste! Liegt
im Moment anscheinend voll im Trend.
Fein, sagte ich. Ich stehe aber eher auf Meer und Wellen.
Da habe ich auch etwas für dich: Schattencreme. Echte, leicht
verdünnte Dunkelheit zum Eincremen du kannst in der prallen
Sonne liegen und fühlst dich wie im Schatten unter einem Baum.
Das klingt gut, sagte ich ehrlich erfreut.
Ach ja, und dann ist da noch die Lesebrille, sagte Alex plötzlich.
Die wird dich bestimmt interessieren. Warte, ich hole sie.
Er ging hinaus, wahrscheinlich in seine Werkstatt, und kam mit etwas wieder,
das aussah wie eine von diesen altmodischen Hornbrillen mit klobigem Gestell.
Das ist nur ein Prototyp, erklärte er. Funktioniert
wie der Phrasenabzug, nur für gedruckte Texte.
Das wird bestimmt ein Erfolg, meinte ich. Der Phrasenabzug
ist schon einer: Er entfernt Phrasen, unnötige Füllwörter,
Redensarten und überhaupt jede Art von überflüssigem Wortmüll
aus gesprochenen Texten. Man trägt ihn als unauffällige Ohrstöpsel,
kann aber auch zum Beispiel seinen Fernseher damit nachrüsten lassen.
Die Lesebrille würde die perfekte Ergänzung dazu sein.
Alex trank seinen Tee aus und ging dann in die Küche, um den Becher
auszuwaschen. In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Mach
doch bitte mal auf, rief er, also tat ich es.
Ich rechnete mit niemandem besonderen, aber als ich die Tür öffnete,
standen dort zwei Polizisten. Einer von ihnen sah mich düster an.
Sind Sie Herr Alexander..., begann er, aber ich unterbrach
ihn. Nein, bin ich nicht, aber er ist zu Hause. Worum geht es?
Ja, worum geht es? fragte Alex, der hinter mir aufgetaucht
war.
Es gibt einige Probleme mit einem an Sie adressierten Paket,
sagte der Uniformierte mit unheilschwangerer Stimme. Wir möchten
Sie bitten, mit uns zu kommen, um die Sache zu klären.
Ja, gut, sagte Alex und griff nach einer Jacke. Ich schloss
mich ihm an und rechnete eigentlich damit, dass die Polizisten mich wegschicken
würden, aber das taten sie nicht. Sie sagten nicht einmal etwas,
als ich mit Alex in den Streifenwagen stieg.
Sie fuhren los, und Alex fragte: Wohin fahren wir? Und was ist überhaupt
geschehen?
Das sehen Sie sich besser selbst an, sagte der immer noch
düster dreinblickende Beamte. Und ich hoffe, Sie haben eine
gute Erklärung dafür.
Ich sah Alex fragend an, aber er zuckte nur ratlos mit den Schultern.
Wir fuhren durch die Dunkelheit, aus der Stadt hinaus und über Nebenstraßen, und ich fragte mich, ob dies falsche Polizisten waren und wir soeben entführt wurden. Bei Alex rechne ich ehrlich gesagt mit allem.
Nach einiger Zeit aber bogen sie auf die Bundesstraße, und kurz
darauf sahen wir vor uns eine abgesperrte Unfallstelle. Halb im Straßengraben
lag umgestürzt ein Transporter eines bekannten Paketdienstes; daneben
standen mehrere Wagen der Feuerwehr.
Der Streifenwagen hielt, und wir stiegen aus. Das Wetter war scheußlich,
Schneeregen und eisiger Wind. Einer der Feuerwehrleute reichte einem Polizisten
etwas, und der gab es an Alex weiter. Es war ein Fetzen Pappe.
Dieses Paket war an Sie adressiert vom Kernforschungszentrum. Was
enthielt es? Und war es etwa radioaktiv? fragte der Polizist streng.
Nein, warf der Feuerwehrmann ein, radioaktiv ist hier
gar nichts. Unser Geigerzähler zeigt nichts an.
Natürlich nicht! rief Alex. Die stellen das nur
für mich her, weil mein eigenes Zyklotron zu klein ist... Das ist
völlig harmlos Befestigungsmaterial, Trübel...
Ach, harmlos? sagte der Feuerwehrmann sarkastisch. Dann
kommen Sie mal mit und sehen sich die Bescherung an.
Wir folgten ihm zu dem umgestürzten Wagen. Die Türen waren aufgesprungen,
und einige Pakete lagen verstreut herum. Eines hatte offensichtlich Weinflaschen
enthalten, aber man sah keine Scherben nur einige fast heile Flaschen,
die im Asphalt zu stecken schienen. Ein Stück weiter erkannte ich
eine Schaufel, die ebenfalls wie festgefroren senkrecht in der Straßendecke
stand. Und noch ein Stück weiter ein Paar Feuerwehrstiefel, leer,
bis zur halben Höhe des Schaftes eingesunken. Sehr seltsam. Der Asphalt
rundherum war nicht weniger seltsam er schien sich zu bewegen,
leise zu wabern, und wirkte irgendwie halb durchsichtig, fast wie Rauch.
Einer unserer Leute wollte die Scherben wegschaffen, und plötzlich
steckte seine Schaufel fest, erklärte der Feuerwehrmann. Dann
merkte er, dass auch seine Stiefel festklebten. Wir konnten ihn gerade
noch rausziehen. Das Zeug zieht einen runter wie Treibsand. Er sah
Alex misstrauisch an.
Ach du liebe Güte! rief der. Trübel... Ja,
es ist völlig klar, was hier geschehen ist. Trübel sind völlig
harmlos, bis man sie mit einem gewissen Kraftaufwand in einen Feststoff
drückt. Dann lockern sie dessen Molekularstruktur, und wenn man dann
einen zweiten Gegenstand hineingibt, durchdringt der erste ihn, beide
verbinden sich unlösbar und verfestigen sich wieder. Das Paket mit
den Trübeln muss hart aufgeschlagen sein, das hat sie aktiviert,
und dann haben sie den Asphalt verdünnt und sich nur dort
wieder verfestigt, wo Gegenstände eingedrungen sind. Der Rest wartet
noch...
Ja, aber das Problem ist leicht zu lösen. Schütten Sie einfach
Sand da rein, dann wird sich der Asphalt mit dem Sand verbinden, und das
war's. Sand oder Kies... Er überschlug etwas im Kopf. Ich
denke, etwa vier Kilo pro Quadratmeter werden genügen.
Der Feuerwehrmann sah Alex zweifelnd an, gab aber entsprechende Anweisungen.
Wie sich zeigte, klappte es tatsächlich: Der Asphalt wurde widerstandslos
fest. Nur die Flaschen, die Schaufel und die Stiefel mussten sie auf Bodenhöhe
abschneiden.
Nachdem sie sahen, dass kein bleibender Schaden angerichtet war, wurden
die Polizisten deutlich freundlicher. Sie fuhren uns sogar wieder nach
Hause. Alex verabschiedete sich von mir vor seiner Haustür. Ich
lege mich ins Bett, sagte er. Ich glaube, meine Erkältung
wird schlimmer. Aber die Sache bringt mich auf einige Ideen ... mal sehen,
was ich daraus machen kann.
Ich ging, kopfschüttelnd, und fragte mich mit leichtem Grausen, was
Alex diesmal ausbrüten würde.
© P. Warmann