Das Nachtlicht.

Ich besuchte meinen Freund Alex, und nachdem ich geklingelt hatte, dauerte es eine ganze Weile, bis er die Tür aufmachte. „Ich war in der Werkstatt“, erklärte er. „Komm rein, ich möchte dir etwas zeigen.“ Das machte mich neugierig, denn Alex ist eine Art Erfinder.
Wir gingen zur Werkstatt, vor deren Tür er stehen blieb. „Ich muss noch etwas vorbereiten“, meinte er. „Könntest du so lange draußen warten?“
„Kein Problem“, sagte ich. „Übrigens, was ist eigentlich mit deinem Bart?“
Er hatte so etwas wie einen Drei-Tage-Bart, aber auf der linken Seite war ein sehr nettes feines Spiralmuster ausrasiert. Rechts dagegen sah es eher so aus, als wäre ein schwer betrunkener Gärtner mit dem Rasenmäher kreuz und quer über eine Grünanlage getorkelt.
„Ach das.“ Alex kratzte sich am Kinn. „Ich probiere gerade einen reiskorngroßen Minirasierapparat aus. Man setzt ihn auf die Wange und er findet die Stoppeln selbsttätig. Wenn er fertig ist, wartet er unter dem linken Ohrläppchen, bis man ihn wieder abnimmt. Ich muss aber den Algorithmus für die Stoppelsuche noch optimieren. Gut, warte hier, ich bin gleich wieder da.“
Er verschwand in der Werkstatt, und ich dachte über Alex und seine Erfindungen nach. Die beste davon ist sicher der Phrasenabzug. Er wird über einem Rednerpult angebracht, egal ob Parteiversammlung, Univorlesung oder Jubiläumsfeier, und lässt nur die bedeutsamen Teile des Gesagten durch. Besonders das Modell 2.0 verkauft sich sehr gut. Es hat einstellbare Filter zum Beispiel für Witze und Anekdoten, für sich widersprechende Aussagen (mit Warnlicht) und für Star-Trek-Anspielungen. Ein besonderer Schlager ist der neue selbst-lernende Filter für persönliche Lieblings-Redensarten.
Andere seiner Patente finden nicht ganz so großen Anklang. Ich denke da an den Mikrowellen-Eierkocher (kocht Eier in fünf Minuten spülmaschinenfest), die mausgesteuerte Wäscheschleuder (wir reden hier von einer lebenden Maus) oder die Wachskerze (die sich während des Abbrennens aufbläht, bis sie irgendwann nur noch aus einer Art Schaum besteht und zusammenbricht).
In letzter Zeit beschäftigt sich Alex viel mit künstlicher Intelligenz und stößt dabei auf ganz neue Probleme. Der Rasierer war ein Beispiel dafür, ein anderes war das dorschförmige Mini-U-Boot. Es sollte eingesetzt werden, um das Verhalten von Fischschwärmen zu untersuchen, aber Modell 1 wurde von einem Raubfisch gefressen. Modell 2 hatte Zähne und eine überarbeitete künstliche Intelligenz, die aber nicht ganz so funktionierte, wie sie sollte: Es ging selbstständig auf Haifischjagd und gilt seitdem als verschollen.

Die Tür der Werkstatt ging auf und Alex rief mich hinein. „Das ist es“, sagte er stolz und wies auf seine neuste Erfindung. Sie stand auf dem Tisch und sah aus wie ein Haufen Elektronikschrott, den man in eine Keksdose gestopft und dann nach dem Zufallsprinzip verlötet hatte.
„Und was ist das?“ wollte ich wissen.
„Das ist ein Nachtlicht. Pass auf.“
Er beugte sich vor und legte einen Schalter an der Seite der Keksdose um. Augenblicklich wurde es dunkel auf dem Tisch – und zwar nur auf dem Tisch. Der Rest des Raumes blieb von Tageslicht erhellt, aber die Erfindung war nicht mehr zu sehen: Sie war der Mittelpunkt einer Kugel aus Dunkelheit. Alex griff hinein, wobei seine Hand in den Schatten eintauchte, und ich hörte den Schalter klicken. Die Dunkelheit verschwand.
„Genial“, sagte ich, ehrlich beeindruckt.
„Es strahlt Finsternis aus“, erklärte Alex. „Jetzt arbeite ich daran, die Reichweite zu vergrößern, doch das Problem ist die Energie, die frei wird, wenn sich das Licht auflöst. Aber das bekomme ich schon irgendwie in den Griff.“

Wir unterhielten uns noch eine Zeit lang über dies und das, dann wollte ich gehen. An der Tür hielt Alex mich auf und drückte mir eine Sonnenbrille in die Hand. „Du wirst sie brauchen bei dem Wetter“, meinte er.
Er hatte Recht. Es regnete in Strömen, aber als ich die Sonnenbrille aufsetzte, erschien mir alles wie in hellen Sonnenschein getaucht. Das hob meine Laune doch beträchtlich.

© P. Warmann