Der Ideenhenker.

Ich hatte Alex angerufen und ihn um Hilfe gebeten – es ging darum, ein Regal anzubringen. Nun bin ich selbst einigermaßen handwerklich begabt und habe keine Probleme, eine Lampe anzuschließen oder eine Tür zu streichen oder auch einen Bilderhaken in die Wand zu schlagen, aber hier musste gedübelt werden, und meine Wände haben ihre Tücken. Also hatte ich schließlich nach einigem Zögern Alex um Hilfe gebeten. Nicht, dass ich dachte, Alex würde die Sache nicht hinbekommen: Er findet immer eine Lösung, und zwar eine, die funktioniert und meistens absolut genial ist. Das Problem ist, dass man mit dieser Lösung anschließend leben muss.
Sein Spezial-Tapetenkleister für unsicheren Putz hat es mir erspart, die Flurwände aufwändig zu grundieren, und dass die Tapeten jetzt im Dunkeln sanft leuchten, finde ich eigentlich recht angenehm. Aber die selbst-entstaubenden Lampenschirme musste Alex auf Ullas Wunsch so umbauen, dass sie nur noch nachts arbeiten, weil ihr von dem Gezittere und Geschwanke unter der Decke ganz schwindelig wurde, der Plasmastrahl zur Toilettenreinigung funktioniert zwar einwandfrei, lässt die Schüssel aber rotglühend zurück, so dass man sie erst nach Stunden wieder benutzen kann, und der künstlichen Intelligenz des selbsttätigen Boden-, Wand- und Deckenstaubsaugers haben wir bis jetzt noch nicht beibringen können, meine Katze nicht unter ‘gröbere Schmutzpartikel’ einzuordnen.

Na gut, ich wollte es auf einen Versuch ankommen lassen. Es klingelte, ich öffnete, und Alex trug einen mittelgroßen Werkzeugkoffer ins Wohnzimmer, wo das Regal schon bereitstand. Aber dann sah er mich stirnrunzelnd und leicht besorgt an und fragte: „Sag mal, hast du vielleicht in letzter Zeit manchmal Bauchschmerzen? So Stiche, die scheinbar ohne Grund auftreten und nie lange dauern?“
„Ja“, sagte ich, „genau. Immer ein, zwei Stiche, wie ein Blitz, und dann ist es wieder weg. Wieso?“
„Weil du“, sagte er etwas zögernd, „handlange sechsdimensionale Kristallspieße hast, die aus deinem Magen ragen.“
„Um Himmels Willen!“ Ich sah an mir herunter, konnte aber natürlich nichts erkennen, weil ich nur in drei Dimensionen sehen kann und nicht in neun, wie Alex.
„Das ist nicht gefährlich“, beruhigte er mich. „Deinen Körper in seinen normalen drei Dimensionen berührt das gar nicht. Nur wenn du damit gegen etwas anderes Sechsdimensionales knallst, spürst du kurz etwas.“
„Und woher kommt so etwas?“
„Meistens von holländischen Gurken oder Tomaten. Weiß der Teufel, womit die das Zeug düngen. Also, was ist das Problem mit dem Regal?“
„Das Regal soll hier in die Lücke; wegen des Gewichts der Bücher müssen wir es andübeln. Wir müssten also hier und hier bohren, und ich kenne diese Wand: Wenn ich das versuche, verwandeln sich die Ziegel in Sand, und es gibt nur eine Art Krater, in dem kein Dübel hält. Fällt dir etwas ein?“
„Hmm.“ Alex untersuchte die Wand, klopfte mit den Knöcheln dagegen und kratzte mit dem Fingernagel. „Du hast Recht. Hier würde kein Dübel halten, und da drüben auch nur schwer. Kein Problem, dann nehmen wir einfach Trübel.“
„Was?“
„Diese Dinger.“ Alex holte eine Dose aus dem Werkzeugkasten und nahm etwas heraus, das aussah wie ein Dübel, nur war er halb durchsichtig, als wäre er aus Zigarettenrauch gemacht.
„Den drücke ich jetzt einfach in die Wand“, erklärte er, „und er lockert die Struktur der Ziegel, so dass ich den Haken problemlos hinterherschieben kann – so. Dreißig Sekunden warten, dann haben sich die Substanzen von Haken und Wand untrennbar miteinander vermischt und bilden eine Einheit. Das hält.“
„Prima“, sagte ich erfreut. „Danke, Alex. Übrigens, wie bekomme ich den Haken wieder aus der Wand?“
„Gar nicht. Das bleibt untrennbar verbunden.“
„Oh, toll.“ Das war mal wieder eine typische Alex-Lösung. „Und wie erkläre ich das meinem Vermieter?“
„Falls du irgendwann mal ausziehst, lasse ich mir etwas einfallen“, erklärte Alex fröhlich, was mich aber eigentlich nicht wirklich beruhigte.

Ich machte Kaffee, und wir tranken ihn. „Was hältst du hiervon?“ fragte Alex, holte eines von diesen Steck-Schachspielen aus der Tasche und stellte die Figuren auf. „Schach mit unsichtbaren Figuren, für Fortgeschrittene.“
„Alex“, sagte ich, „wozu braucht man dazu unsichtbare Figuren? Man kann sie schlicht weglassen, und das Schachbrett auch, wenn du mich fragst. Außerdem: Die Figuren da sind nicht unsichtbar – ich zumindest kann sie einwandfrei sehen.“
„Ja, das liegt daran, dass alle Menschen Unsichtbares sehen können.“
Ich griff mir an die Stirn. „Alex, das ist eine komplett blödsinnige Idee.“
Er betrachtete nachdenklich das Schachspiel. „Ja, das ist es“, sagte er dann. Er stand auf, hielt das Schachbrett einfach so in den Raum und sagte laut: „Eine komplett blödsinnige Idee.“
Er sah aufmerksam in eine Ecke meines Wohnzimmers, und ich folgte seinem Blick. Da war doch etwas? Ja, etwas Dunkles, das größer wurde, schnell größer, und deutlicher. Eine große Figur, ein Mann wahrscheinlich, der eine schwarze Kutte trug und so eine Haube, schwarz, mit Augenschlitzen, wie die Henker in den altmodischen Kostümfilmen. Was verdammt gut passte, denn er hielt in seinen Händen ein riesiges doppelschneidiges Beil. Ich schluckte.
„Oh, sehr gut“, sagte Alex erfreut. „Hier, ich denke, dies ist eine komplett blödsinnige Idee.“ Damit reichte er dem Mann das Schachspiel, und der legte es auf etwas Dunkles vor ihm.
„A - Alex“, stotterte ich mit belegter Stimme, „wer ist das?“
„Ach, das ist der Ideenhenker. Wann immer jemand eine komplett blödsinnige Idee hat und die wieder aus der Welt schaffen will, kann er ihn rufen. Er richtet sie dann hin, und damit ist sie für alle Zeiten aus dem Universum verschwunden.“
Der Mann nickte ernst, hob die Axt und ließ sie niedersausen auf ... was war es bloß gewesen, was Alex ihm gegeben hatte?
„Scheint zu wirken“, sagte ich. „Das hätte damals jemand mit der Idee der Atombombe machen sollen.“
Diesmal nickte der Mann dreimal und mit Nachdruck.
„Tja“, sagte Alex, „die scheint jemand für eine gute Idee gehalten zu haben.“
„Nun, das kann sich ändern“, sagte der Henker mit hohler, aber nicht unangenehmer Stimme. „Und wenn es dazu kommen sollte ... dann werde ich bereit sein. Stets gern zu Diensten.“ Er verneigte sich und verblasste.
„Alex“, sagte ich, „du hast interessante Bekannte.“

© P. Warmann