Wie Meister Wang ein mit einem Drachen besticktes Hemd trug.

Meister Wang hatte mich als Schüler angenommen. Er bot mir an, bei ihm einzuziehen, und weil ich bis dahin möbeliert gewohnt hatte, sah ich keinen Grund es abzulehnen. Ich bekam zwei Zimmer unter dem Dach, mit Schräge, aber ziemlich groß. Außerdem mag ich schräge Wände. Dazu gehörte ein eigenes Bad, und es gab einen Zugang über die Hintertreppe, so dass ich mich nicht in Meister Wangs Alltäglichkeiten verwickeln lassen musste, wenn ich nicht wollte.
Wie ich erfuhr, lebte Meister Wang in diesem Haus zusammen mit seiner Schwester. Sie war es gewesen, die mich bei meinem ersten Besuch empfangen hatte. Ich lernte bald, dass sie Witwe war und eine international bekannte Expertin für die Restauration antiker Gobelins und Seidenbrokate.
Ich tauchte also in Meister Wangs alltägliche Routine ein, die vor allem darin bestand, dass es keine Routine gab. Ich habe Meister Wang nur selten etwas zweimal auf dieselbe Weise tun sehen. Wir aßen zu den seltsamsten Zeiten, gingen nach Mitternacht spazieren oder verbrachten den Nachmittag bei Tee und Studien. Wenn wir Hunger bekamen, kochten wir uns etwas – auch darin war Meister Wang ein Meister.

So beginnt diese Geschichte in Meister Wangs großer moderner Küche im Erdgeschoss. Ich war gerade heruntergekommen, um mir Frühstück zu machen, und fand ihn dabei, wie er das gleiche tat.
„Tee und Erdnusswaffeln“, sagte er. „Treffe ich damit deinen Geschmack?“
„Mit dem Tee auf jeden Fall. Erdnusswaffeln? Hm. Ich werde sie versuchen.“
„Das ist das beste, was man in so einem Fall machen kann“, pflichtete er mir bei.
Er widmete sich dem Waffeleisen. Ich sah ihm zu. Er trug wie immer eine von seinen schlichten dunklen Hosen, aber heute ein ganz besonderes Hemd. Es war mitternachtsblau und mit einem gewaltigen Drachen bestickt, in Silber, Gold und mindestens sechs weiteren Farben.
„Cooles Hemd“, meinte ich.
„Gefällt es dir? Es ist das Geschenk eines Schülers von mir. Er hat es selbst bestickt. Leider war er nicht lange mein Schüler, er hat sich entschlossen, die Firma seines Vaters zu übernehmen. Das Hemd hat er mir geschickt und einen Brief dazugelegt, in dem er sich entschuldigt – die Stickerei soll fünf Fehler enthalten. Ich habe sie nie gefunden.“
Ich stellte die Frage nicht, aber er beantwortete sie trotzdem.
„Ich habe sie nicht gefunden, weil ich sie nie gesucht habe. So ist es ein großartiges Hemd, das – vielleicht – fünf Fehler hat. Würde ich die Fehler suchen, so würde ich nur noch fünf Fehler auf einem Hemd darin sehen.“
Er sah mich fragend an. „Warum, glaubst du, trage ich dieses Hemd?“
Ich dachte darüber nach, ziemlich lange. Mir fiel kein guter Grund ein (und Meister Wang hat immer gute Gründe für das, was er tut), bis auf einen, vielleicht. Etwas zweifelnd sagte ich: „Ich kann mir nur vorstellen, dass du es trägst, weil du es magst.“
Er sah mich scharf an. „So lange denkst du nach, und dann bist du dir nicht einmal sicher? Natürlich trage ich das Hemd, weil ich es mag. Welchen Grund könnte es sonst geben?“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Obwohl ich jedes Mal daran denken muss, dass er mehr Drachen sticken sollte und weniger über Fehler nachdenken. Aber das ist nichts, was ich ändern kann. Und was dich angeht:“ – er sah mich direkt an – „Warum vertraust du deinen eigenen Gedanken nicht? Wenn du gleichzeitig weißt und zweifelst, was davon ist deine Erkenntnis? Und jetzt sag mir, was du von meinen Erdnusswaffeln hältst.“

© P. Warmann