Wie Meister Wang sein Chi lesen ließ.

Ich kam aus der Stadt in das Haus zurück, in dem ich bei Meister Wang wohnte, und fand ihn in seinem Arbeitszimmer. Er hatte ein Blatt Papier vor sich ausgebreitet und war gerade dabei, die Tusche anzureiben. Verschiedene Pinsel lagen bereit.
„Ich komme gerade aus dem Spirituellen Café“, sagte ich. „Dort war ein Mann, der meinte, er könne das Chi der Leute lesen.“
Meister Wang sah nicht auf. „Und? Konnte er?“
„Ich denke schon. Was er sagte, klang jedenfalls in den meisten Fällen angemessen. Als er hörte, dass ich dein Schüler bin, wollte er übrigens unbedingt mein Chi untersuchen. Er hat es sich angesehen und meinte, es würde ‘klar, kraftvoll und stetig’ fließen.“
Meister Wang gab noch einige Tropfen Wasser auf den Reibstein. „Und? Tut es das?“
„Ich weiß nicht“, sagte ich zweifelnd.
Jetzt sah er mich direkt an und runzelte die Stirn. „Du weißt es nicht? Es ist dein Chi – du solltest wissen, wie es fließt.“ Ein Anflug von Tadel lag in seiner Stimme.
„Nein“, sagte ich. „Ich meine, ja: Ja, es ist mein Chi, und ja, ich weiß, wie es sich anfühlt. Aber auch nein, denn ich weiß nicht, ob seine Worte es richtig treffen. Das heißt, ich glaube, dass man es überhaupt nicht in Worte fassen kann. Es gibt einfach keine Worte, die dafür angemessen wären.
Außerdem hat es mich gestört, dass er es verkündet hat, als wäre es etwas besonders Tolles und ich so eine Art Vorbild. Gut, vielleicht habe ich wirklich einen Weg gefunden, es für mich richtig zu machen – aber das heißt noch lange nicht, dass es anderen gut täte, wenn sie sich an mir ein Beispiel nähmen.“
„Ah“, sagte Meister Wang mit einem Lächeln, „das hast du also verstanden? Gut. Ja, du hast Recht. Das Einteilen in Kategorien bewirkt, dass man alles das verliert, was nicht in die Schubladen passt. Man muss es aufgeben – den größeren Teil der Unendlichkeit. Und wenn man anfängt, Rangfolgen aufzustellen und in ‘besser’ und ‘schlechter’ zu denken, dann verirrt man sich. Man glaubt aufzusteigen, aber in Wirklichkeit ist man nur woanders. Das ist der Grund, warum solche Menschen nie den Gipfel erreichen: Dort, wo sie ihn vermuten, ist nur der Eingang zu einer weiteren Höhle.“
Er tauchte den Pinsel in die Tusche, musterte noch einmal kritisch das Blatt vor sich und begann zu malen. Ein Dutzend Striche, dann kniff er die Augen zusammen und nickte.
„Fertig. Was meinst du dazu?“
Ich trat neben ihn, um das Bild richtig herum zu sehen. „Eine Katze“, sagte ich. „Das ist der Kater des Nachbarn. Er ist auf der Jagd, aber er hat erkannt, dass er diese Amsel nicht erwischen wird. Sie ist vor ihm sicher, das weiß sie, und er weiß, dass sie es weiß.“
Meister Wang sah mich nachdenklich an. „Die Katze habe ich gemalt, aber wo siehst du den Vogel?“
„Im Blick der Katze.“
„Ah. Du blickst tief. Ja, ich denke, du bist bereit für eine weitere Lektion. Wenn dir dieser Mensch, der das Chi anderer zu lesen versteht, wieder über den Weg läuft, dann lade ihn doch in meinem Namen zum Tee ein.“

Die Gelegenheit dazu ergab sich einige Wochen später. Der Mann erschien im Spirituellen Café, als auch ich zufällig gerade dort war, und ich übermittelte ihm Meister Wangs Einladung. Er fühlte sich sichtlich geschmeichelt, besonders, als ich ihm sagte, wir könnten sofort zu Meister Wang gehen, er wäre jederzeit willkommen.
Wir machten uns also auf den Weg, und ich dachte darüber nach, was diese Einladung zu bedeuten hatte. Ich war mir sicher, dass einiges mehr dahinter steckte – und dass jeder von uns danach um eine wesentliche Erfahrung reicher sein würde.
Meister Wang begrüßte seinen Gast sehr freundlich, bat ihn in sein Arbeitszimmer und setzte ihn in den besten Besuchersessel. Dann erklärte er, er würde sich sofort um den Tee kümmern. Der Gast schien etwas erstaunt darüber, dass der große Meister Wang so etwas selbst machte, aber wir haben kein Hauspersonal, und Meister Wang neigt nicht dazu, solche Dinge an mich weiterzureichen.
Bevor wir in die Küche aufbrachen, sprach Meister Wang den Gast an: „Wie ich höre, sind Sie in der Lage, das Chi der Menschen zu lesen. Möchten Sie es einmal mit meinem versuchen?“
Der Gast wollte – man sah ihm deutlich an, dass es genau das war, was er sich erhofft hatte. Meister Wang reichte ihm die linke Hand, und unser Besucher konzentrierte sich. Dann wurde er blass und ließ die Hand los. Er suchte krampfhaft nach Worten, aber bevor ihm etwas eingefallen war, war Meister Wang schon auf dem Weg in die Küche. Ich wollte ihm folgen, aber der Gast hielt mich zurück.
„Das ist schrecklich“, sagte er und sah auch ziemlich erschrocken aus. „Eigentlich dürfte er überhaupt nicht mehr am Leben sein. Ich habe in ihm etwas ganz seltsames gesehen: In ihm war nasse Asche.“
Ich machte mich auf den Weg in die Küche, weniger besorgt als ich hätte sein können, denn ich kannte meinen Meister inzwischen ziemlich gut. Ich fand ihn, wie er den Tee bereitete, und erzählte ihm, was unser Gast gesagt hatte.
„‘Nasse Asche’? Das ist ein gutes Bild – er versteht es wirklich, das Chi zu lesen. Aber seine Deutung war etwas voreilig. Ich habe ihm nur gezeigt, wie mein Chi das Wesen der Erde spiegelt, ruhend, ungeformt, ohne Antrieb. Diese ruhende Kraft hat er gesehen.“
Ich nickte. Etwas ähnliches hatte ich mir schon gedacht. Dann half ich ihm den Tee vorzubereiten.
Zurück im Arbeitszimmer verteilten wir Tassen und Teller, dann streckte Meister Wang seinem Gast noch einmal seine Hand entgegen. „Das Chi ist, wie Sie wissen, eine fließende Kraft und daher durchaus veränderlich“, sagte er. „Möchten Sie es noch einmal versuchen?“
Etwas unsicher griff der Besucher nach Meister Wangs Hand, stutzte und begann dann zu strahlen.
„Aber das ist ganz ausgezeichnet!“ rief er. „Ich habe noch nie ein Chi gesehen, das so kraftvoll fließt, so ausgeglichen und so voller Leben. Wirklich bemerkenswert.“ Er klang richtig begeistert und auch ein wenig erleichtert.
Meister Wang lächelte und nickte, gab aber keinen Kommentar ab. Ein paar Minuten später bat er mich, noch einmal mit in die Küche zu kommen – der Tee müsste inzwischen gezogen sein. Wir gingen, und als wir außer Hörweite waren, sagte er: „Diesmal habe ich ihm das Gleichgewicht von Himmel und Erde gezeigt: weder Namen noch Dinge, nur fließende Kraft. Das hat er erkannt, aber wie du bemerkt hast, scheint er diesen Zustand für besser zu halten. Das ist er nicht. Er ist nur anders, und ich sollte in keinem dieser Zustände auf Dauer verweilen.“
Wir kehrten mit der Teekanne und einer großen Schachtel von Meister Wangs selbst gebackenen (und sehr leckeren) Sesamkeksen in das Arbeitszimmer zurück. In der nächsten Stunde wurde Tee getrunken und über ostasiatische Kunst gesprochen. Davon verstand der Gast eine Menge, und ich hörte zu und lernte.
Irgendwann stand Meister Wang auf, um einige Mappen mit chinesischen Tuschezeichnungen zu holen, wie er sagte, und bat mich mitzukommen. Vorher aber streckte er dem Gast noch einmal seine Hand entgegen.
„Versuchen Sie es noch einmal“, schlug er vor.
Der Gast griff zu, aber er wirkte verwirrt. Er schüttelte den Kopf und sagte, ziemlich erstaunt: „Das verstehe ich nicht. Ihre Energien sind in einem Zustand, in dem ich sie nicht lesen kann.“
„Ach ja“, sagte Meister Wang, „so etwas kommt vor.“
Weiter ging er nicht darauf ein, aber als wir den Raum verlassen hatten, sagte er zu mir: „Ich habe ihm die große Leere gezeigt, in der nichts ist. Er hat also meine Kraft gesehen, wie sie auf nichts gerichtet war.“
„Und das konnte er nicht verstehen“, meinte ich.
„Nein, das ist nicht sein Problem. Er hat deutlich gesehen, was zu sehen war. Er hat es auch verstanden. Aber er konnte es nicht in Worte fassen, und das gibt ihm das Gefühl, nichts zu erkennen. Dabei gibt es nur keinen Begriff dafür.“
Wir holten die Alben, von denen ich einige noch nicht kannte, und sahen sie uns an. So verging eine Stunde oder mehr. Schließlich bedankte sich unser Besucher für unsere Gastfreundschaft und brach auf. Wir brachten ihn zur Tür, und dort streckte Meister Wang ihm noch einmal seine Hand entgegen und bat ihn um einen weiteren Versuch. Etwas unsicher griff unser Gast zu, aber kaum hatte er begonnen, da riss er erschrocken die Augen auf, stieß ein Keuchen aus, fuhr herum und rannte davon. Er lief den Gartenweg hinunter als würde er von wer weiß was verfolgt. Ich wollte ihm hinterher, aber Meister Wang hielt mich zurück.
„Was hat er denn bloß?“ fragte ich verblüfft.
„Es gibt neun Arten von Abgründen“, erklärte Meister Wang. „Ich habe ihn in drei davon blicken lassen, und er hat sie ertragen, aber das hier... Ich habe ihn sehen lassen, wie es ist, wenn ich in der Mitte verharre. Er konnte nicht erkennen, wer oder was ich war: Er sah Nichts.“
„Ist das so?“ fragte ich etwas verwundert. „Aber... Könnte ich es auch versuchen?“
„Wenn du möchtest.“ Er reichte mir seine Hand.
Ich ergriff sie und tauchte in sein Chi ein. „Ja“, sagte ich, „aber das ist doch nicht ungewöhnlich. So bist du doch meistens. Überhaupt, warum sollte das jemanden erschrecken?“
„Was suchst du, wenn du in den Abgrund blickst?“
Darüber musste ich gründlich nachdenken. „Den Abgrund.“
„Ja. Du erwartest nicht, etwas zu finden, deshalb findest du, was da ist. Aber viele suchen im Abgrund den Boden, und sie erstarren, wenn sie statt dessen das Nichts finden.
Nun gut. Ich glaube, es ist noch Tee übrig, und du wolltest mich etwas fragen zu der Mappe mit den Winterlandschaften.

© P. Warmann