Wir gingen am Strand entlang, Meister Wang und ich. Die großen
Meister der Vergangenheit kannten das wahre Wesen der Dinge. Deshalb konnten
sie durch das Wasser gehen, ohne nass zu werden, und sie konnten durch
das Feuer schreiten, ohne dass es sie verbrannte. , zitierte
ich aus einem Buch, das Meister Wang mir gegeben hatte. Ist das
jetzt wörtlich zu verstehen, oder ist es nur ein Bild? Ich frage
mich überhaupt, was das mit dem Erkennen des wahren Wesens der Dinge
zu tun hat. Ist das wahre Wesen des Wassers nicht, zu benetzen, und das
des Feuers, zu verbrennen?
Ich weiß nicht, ob es so etwas wie die großen Meister
der Vergangenheit je gegeben hat, meinte Meister Wang nachdenklich.
Oder wenn es sie gegeben hat, wozu sie fähig waren. Aber es
ist wahr: Wer das wahre Wesen der Dinge kennt, kann außerordentliche
Taten vollbringen. Was deine zweite Frage angeht: Das wahre Wesen eines
Dinges ist nicht in einem Wort zu fassen. Es ist das Wesen des Wassers,
zu benetzen, aber es ist auch sein Wesen, nachgiebig zu sein und teilbar.
Wer diesen Teil seines Wesens berücksichtigt, der kann wirklich durch
das Wasser schreiten und wird nicht nass. Das Feuer verbrennt, aber es
ist auch unstet und beweglich, und die Kunst liegt darin, diesen Teil
seines Wesens auszunutzen und immer dort zu sein, wo das Feuer nicht ist.
Ich zeige dir das mal, wenn sich die Gelegenheit ergibt.
Wir schritten weiter am Strand entlang. Über uns fegten graue Wolken
über den Himmel, und der Wind war kalt.
Meister Wang blieb stehen. Hole mir bitte ein Blatt von dem Strandhafer,
der dort drüben wächst, sagte er.
Ich ging und holte es. Als ich zurückkam, kniete Meister Wang im
Sand und reichte mir einen Stein, den er in der Hand gehalten hatte.
Sag mir, was du davon hältst, meinte er.
Ich nahm den Stein und betrachtete ihn.
Granit, sagte ich. Rötlicher Granit. Die Gletscher
werden ihn mitgebracht haben. Vom Wasser rundgewaschen. Klein genug, dass
er in meine Hosentasche passen würde. Ein netter Stein ich
mag ihn.
Meister Wang lächelte. Würdest du sagen, das Wesen dieses
Steines sei es, hart zu sein und unteilbar?
Hart ganz sicher, antwortete ich. Unteilbar? Sicher
nicht. Es gibt auf jeden Fall Möglichkeiten, ihn zu teilen, allerdings
ist es bestimmt nicht leicht.
Du hast sein wahres Wesen gut erkannt, meinte Meister Wang.
Glaubst du, du könntest ihn spalten? Jetzt und hier?
Nein. Jetzt und hier bestimmt nicht. Ich bräuchte das richtige
Werkzeug, dann vielleicht.
Hmm. Er streckte seine Hand aus, und ich gab ihm den Stein
zurück. Er legte ihn sorgfältig vor sich in den Sand. Dann nahm
er mir das Blatt des Strandhafers ab und fuhr gedankenverloren mit seinen
Fingerspitzen daran entlang.
Das Wesen des Grases ist es, nachgiebig und biegsam zu sein,
erklärte er. Aber es dringt auch durch Ritzen und schiebt auseinander,
was ihm im Weg steht. Und der Stein ist hart, aber wenn eine Kraft ihn
auf einer schmalen Linie trifft, so wird er sich dort spalten. Also...
Er hob das Blatt des Strandhafers über den Kopf, hielt es mit beiden
Händen wie ein Schwert. Dann ließ er es hinuntersausen auf
den Stein, so schnell und kraftvoll, dass ich von der Bewegung nur einen
verwischten Streifen sah. Es gab einen Klang wie von einem steinernen
Gong.
Meister Wang legte das Gras zur Seite und hob den Stein auf oder
besser die beiden Hälften des Steines, denn er war sauber in der
Mitte gespalten. Er gab sie mir. Ich sah mir die Sache an und meinte:
Das ist ein Ding.
Er lachte, stand auf und klopfte sich den Sand von der Hose.
Das meinte ich damit, das wahre Wesen eines Dinges zu erkennen und
jenes davon auszunutzen, was es möglich macht, das Ziel zu erreichen.
Er hob den Strandhafer auf und ging dorthin, wo ich ihn gepflückt
hatte. Dort drückte er das Blatt sehr vorsichtig wieder an den Halm
und strich darüber.
So, sagte er. Wieder angewachsen. Ich möchte nichts
unnötig verstümmeln. Du siehst, es ist das Wesen des Lebendigen,
Wunden zu heilen und wieder zusammenzuwachsen, wenn es getrennt wurde.
Allerdings gilt das nicht für Steine. Der, den ich gespalten habe,
wird nie wieder ganz sein. Habe ich jetzt einen netten Stein für
einen dramatischen Effekt geopfert?
Das denke ich nicht, meinte ich und betrachtete die Steinhälften
in meiner Hand. Du hast mich heute vieles über das wahre Wesen
der Dinge gelehrt, und ich werde den Stein mitnehmen und in meinem Zimmer
auf die Fensterbank legen. Wenn ich ihn dort sehe, werde ich mit der Zeit
noch mehr über sein Wesen lernen. Und er ist auch gespalten ein netter
Stein.
Ah. Meister Wang wirkte zufrieden. Dann hat das Spalten
aus diesem Stein mehr gemacht und nicht weniger. Gut. Was hältst
du davon, wenn wir noch ein Stück weiter gehen? Ich glaube, dort
vorne am Leuchtturm gibt es ein Café, in dem man einen sehr guten
warmen Apfelstrudel bekommt.
© P. Warmann