Eines Nachmittags rief Meister Wang mich in sein Arbeitszimmer. Er saß
auf einem Polster hinter dem niedrigen Tisch, den er zum Arbeiten und Malen
benutzte. Im Augenblick war der Tisch leer bis auf einen Räucherstäbchenhalter,
in dem ein einsames Räucherstäbchen steckte.
Setz dich, sagte er und deutete auf das Polster vor dem Tisch,
ihm gegenüber. Ich setzte mich und beäugte das Räucherstäbchen
misstrauisch. Meister Wang hat einen reichlich seltsamen Geschmack, was Räucherdüfte
angeht. Es ist ähnlich wie bei dem Essen, das er zubereitet und mich
probieren lässt: Die Erdnuss-Bananen-Waffeln waren lecker, die Honig-Senf-Zwiebel-Muffins
gewöhnungsbedürftig, aber ich erinnere mich nur mit Grausen an den
kandierten Rosenkohl.
Bei den Räucherstäbchen ist es ähnlich. Manchmal nimmt er die
gängigen Düfte, Jasmin oder Weihrauch oder Ylang-Ylang, aber wir
hatten auch schon Bierhefe, Seetang und Knoblauch-Birne. Dieses Stäbchen
konnte ich nicht identifizieren es war naturbraun und verriet sich
unangezündet nicht.
Ich möchte, dass du eine Wahl triffst, sagte Meister Wang
in die Stille. Höre gut zu, denn ich werde dies nicht wiederholen:
Möchtest du ein Wissender werden, einer, der die Ordnung der Dinge erkennt,
die Geheimnisse der Welt ergründet und vor keinem Rätsel ratlos
ist? Das ist es, was du werden könntest.
Er öffnete seine linke Hand, als er das aussprach, als wollte er mir
die eine Alternative darbieten. Dann öffnete er auf gleiche Weise seine
rechte Hand und sagte: Möchtest du die innere Ruhe finden in der
Tiefe deines Selbst, jene Klarheit und Stille, jene Bewusstheit, die dich
wirklch zu dem werden lässt, was du bist? Auch das könntest du werden.
Er schloss beide Hände und lehnte sich zurück. Entscheide
dich. Entscheide dich hier und jetzt. Wähle deine Zukunft. Es ist deine
Wahl, und so, wie du sie triffst, wird es geschehen.
Ich setzte an, um etwas zu fragen, aber er hob die Hand. Sprich erst
dann wieder, wenn du dich entschieden hast. Du hast Bedenkzeit, bis dieses
Räucherstäbchen er zog eine Schachtel Streichhölzer
aus der Tasche und zündete es an heruntergebrannt ist.
Noch einmal sah er mir direkt in die Augen. Bedenke meine Worte, und
dann wähle.
Der Rauch stieg mir in die Nase. Sandelholz, stellte ich abwesend fest. Es
hätte auch Harzer Käse sein können, das war jetzt unwichtig.
Langsam fraß sich die Glut nach unten, langsam, und meine Zeit lief
ab.
Wenn es etwas anderes gewesen wäre, zwischen dem ich hätte wählen
müssen... Aber Meister Wang kannte mich zu gut. Es waren die beiden Dinge,
die ich am meisten suchte: Wissen auf der einen Seite und auf der anderen
jene letzte Klarheit und Ruhe, die ein Mensch erreicht, wenn alle Widersprüche
aufgehoben sind.
Was sollte ich aufgeben, um was dafür zu erhalten? Ich war zu Meister
Wang gekommen, begeistert, um zu lernen. Jede seiner Lektionen hatte mir etwas
gegeben, ich war ständig mehr geworden: mehr Mensch, mehr ich selbst,
mit mehr Wissen, mehr Einsicht, mehr Freude am Leben. Mehr Möglichkeiten.
Aber diese Lektion war bitter. Wenn ich meine Entscheidung traf, würde
ich weniger sein: Es war, als wenn ich ein Stück von mir abschneiden
sollte, um es für immer zu verlieren. Hier gab es keinen Ausweg
wenn ich mich um diese Wahl drückte, würde ich gar nichts bekommen.
Es tat weh. Was sollte ich aufgeben? Was wählen?
Ein Drittel des Stäbchens war zu Asche geworden. Wähle, hatte Meister
Wang gesagt. Bedenke meine Worte, dann wähle. Das war etwas, das ich
in der Zeit mit ihm gelernt hatte: Meister Wang sagte immer genau das, was
er meinte. Keines seiner Worte war überflüssig, alles, was er sagte,
hatte eine Bedeutung.
Ich wiederholte im Geiste noch einmal die Worte, die er eben gesprochen hatte.
Dann lief es mir kalt über den Rücken, als ich erkannte, welchen
Fehler ich fast gemacht hätte. Ich sollte doch verdammt noch mal inzwischen
verstanden haben, dass es darauf ankam, was er sagte und nicht, was
ich glaubte, was er damit meinte.
Denn keines seiner Worte war überflüssig ... und niemals ließ
er ein Wort weg, das für den Sinn nötig gewesen wäre. Was genau
hatte er gesagt? Möchtest du ein Wissender werden... Das ist es,
was du werden könntest. ... Möchtest du die innere Ruhe finden...
Auch das könntest du werden. Genau das waren seine Worte gewesen,
genau das und nicht mehr. Das Wort, an dem ich mich aufhängte, hatte
er niemals ausgesprochen.
Erst zwei Drittel des Räucherstäbchens waren verbrannt, aber mehr
Zeit brauchte ich nicht. Ich sah Meister Wang an. Ich habe meine Wahl
getroffen, sagte ich. Er sah mir in die Augen, ruhig, und ich konnte
nicht ablesen, was er dachte. Dann nickte er langsam, einmal. Ich holte tief
Luft.
Ich möchte ein Wissender werden, und ich möchte inneren Frieden
finden. Beides, und noch mehr: Alles. Nicht alles zusammen nur die
Möglichkeit, etwas aus allem zu sein. Das ist die Wahl, nicht wahr? Es
gab niemals ein oder.
Er nickte und begann leise zu lachen. Ja, genau das ist die Wahl.
Er wurde wieder ernst. Alle meine Schüler müssen sich ihr
stellen. Manche habe ich an dieser Stelle verloren. Sie haben einen Teil ihres
Lebens weggeworfen, in dem Glauben, nur so einen anderen gewinnen zu können.
Aber in dieser Welt gibt es nur höchst selten ein oder, bei
dem die eine Möglichkeit die andere vollkommen ausschließt. Jedenfalls
dann, wenn man einen Schritt weit auf Abstand geht und das Ganze überblickt.
Oh, sicher, du kannst in diesem Augenblick nur diese Schuhe tragen oder die
anderen. Aber damit schließt du die anderen Schuhe nicht für immer
aus deinem Leben aus. Du stellst sie zur Seite und trägst sie ein anderes
Mal.
Und wenn ich gewählt hätte?
Dann hättest du dir selbst die Möglichkeit genommen, die du
aufgegeben hättest. Manche halten dies für einen Preis, den sie
zahlen müssen, oder sogar für eine Tugend. Wie ich sagte, auch einige
meiner Schüler haben so die Möglichkeit der umfassenden Erkenntnis
aufgegeben. Aber du ... bei dir war ich fast sicher, dass du das gößere
Ganze erkennen würdest. Jetzt bin ich froh.
Er stand auf und betrachtete das verlöschende Räucherstäbchen.
Wir sollten es feiern. Hast du jemals echten tibetischen Buttertee getrunken?
Das ist ein Erlebnis, das du niemals vergessen wirst.
Genau das fürchtete ich auch
© P. Warmann