Der Bücherwurm.

Ich wollte gerade das Haus verlassen, als mein Nachbar mir entgegenkam. „Hallo“, sagte er, „haben Sie schon davon gehört? Man hat in Süddeutschland einen Wortschatz aus dem 17. Jahrhundert gefunden.“
„Was, wirklich?“ fragte ich – ich arbeite als Bibliothekar in der Sammlung unwiederbringlicher Bücher, und alles, was mit Worten zu tun hat, findet mein Interesse.
„Ja, offensichtlich haben sie den Wortschatz bei der Renovierung eines alten Hauses gefunden, in einer Schatulle, die im Keller in einer Nische eingemauert war. Zum Glück war jemand vor Ort, der erkannt hat, worauf sie da gestoßen waren und welchen Wert das hat. Stellen Sie sich vor: ein kompletter deutscher Wortschatz aus dem 17. Jahrhundert, vollständig erhalten! Sie glauben sogar, dass sie möglicherweise noch Grammatikreste nachweisen können.“
„Weiß man schon, wieso er dort versteckt wurde?“ fragte ich nach.
„Sie vermuten, dass jemand ihn während der Zeit der französischen Besatzung hat verschwinden lassen, aus Angst, damit erwischt zu werden, und er ist offensichtlich nie dazu gekommen, ihn wieder hervorzuholen. Was für ein großartiger Fund – ich bin wirklich gespannt, was bei den Untersuchungen herauskommen wird.“
„Halten Sie mich auf dem laufenden“, bat ich und schloss meinen Briefkasten auf.

Während ich meine wenige Post herausnahm, meinte mein Nachbar: „Übrigens, Ihre Schildkröte hat ein neues Skateboard, oder? Gestern ist sie damit an mir vorbeigeflitzt. Der neue Sturzhelm steht ihr auch – ein schickes Grün.“
„Sie kann es sich leisten“, sagte ich und musste lächeln, „sie verdient sich neuerdings im Schlaf etwas hinzu.“
„Im Schlaf?“ fragte mein Nachbar leicht verblüfft.
„Ja, ein Flugzeughersteller nutzt ihre freie Gehirnkapazität, während sie schläft. Die machen irgendwelche komplexen Modellrechnungen über das Strömungsverhalten von Tragflächen und haben dafür mehr als tausend Schildkröten vernetzt. Offensichtlich eignen sich ihre Hirne perfekt für solche Berechnungen, und die Firma zahlt sehr gut dafür – kein Vergleich mit ihrem früheren Aushilfsjob als Briefbeschwerer.“
Mein Nachbar lachte und wünschte mir noch einen angenehmen Arbeitstag.

Ob ich den haben würde, dachte ich, war allerdings eher fraglich. Normalerweise arbeite ich, wie gesagt, in der Sammlung unwiederbringlicher Bücher, aber heute ging ich einem anderen Auftrag nach. In den Öffentlichen Bücherhallen hatten sich merkwürdige Vorfälle ereignet, und es wurde vermutet, dass dafür ein Bücherwurm verantwortlich war. Ich sollte der Sache nachgehen.
In den Bücherhallen empfing mich eine sehr junge Frau, die mir erklärte, sie wäre noch in der Ausbildung.
„Wieso kümmert sich nicht der Büchereileiter um diese Angelegenheit?“ wollte ich wissen.
„Er ... hm ... es kommt mir so vor, als hätte er mich vorgeschickt, um nicht mit Ihnen zusammentreffen zu müssen“, erklärte sie offen.
„Na gut“, sagte ich. „Dann erzählen Sie mir bitte, was hier vorgefallen ist.“
„Seit einigen Monaten tauchen immer wieder Bücher mit Fraßspuren auf, inzwischen sind es schon mehr als ein Dutzend. Zuerst dachten wir natürlich, es wäre geschehen, während die Bücher ausgeliehen waren, aber eine ganze Reihe der Opfer hat die Bücherei seit Monaten nicht mehr verlassen, und die Fraßspuren waren frisch. Es muss also hier drinnen geschehen sein. Wir haben versucht, den Verursacher zu identifizieren, und auf ungewöhnliche Vorgänge geachtet, aber uns ist kein Verdächtiger aufgefallen. Wir wissen einfach nicht mehr weiter.“
„Was für Bücher sind denn betroffen?“ fragte ich nach.
Sie zählte sie auf – es waren Werke aus fast jeder Abteilung darunter.
„Sehr unsystematisch“, meinte ich nachdenklich, „aber das ist ja typisch für Bücherwürmer – oder Leseratten, wie sie auch genannt werden.“
„Was ist eigentlich ein Bücherwurm? Ich bin auch schon als einer bezeichnet worden...“
„Nein, Sie sind, wie ich, eine sogenannte Aktivleserin. Die meisten Menschen sind Passivleser, das heißt, sie greifen nur auf die Informationen zu, die in einem Buch enthalten sind, aber sie verändern diese nicht. Aktivleser dagegen ziehen den Inhalt aus dem Buch, verarbeiten ihn und geben ihn dann wieder zurück. Es ist klar, dass er dabei nicht unverändert bleibt – er wird sozusagen eingefärbt und mit den persönliche Ansichten und Einstellungen beladen.
Das ist der Grund, warum es so schmerzlich ist, wenn man intensiv gelesene Bücher verliert. Selbst, wenn Sie sich das gleiche Buch in genau der gleichen Ausgabe beschaffen können, liest es sich anders. Es fühlt sich in gewisser Weise kahl und leer an, weil ihm all das fehlt, was Sie hineingelegt haben. Und umgekehrt können sich gebrauchte Bücher manchmal sehr fremd anfühlen.
Ein Bücherwurm dagegen ist ein Aktivleser mit einem krankhaften Leseverhalten. Er nimmt den Inhalt eines Buches nicht geordnet auf, sondern verschlingt ihn, und er gibt ihn auch nur zerstückelt und fehlerhaft wieder zurück. Das Ergebnis liest sich wie zernagt, deshalb der Begriff Bücherwurm oder Leseratte.“
„Ich verstehe“, sagte sie nachdenklich. „Aber wie kommt ein Mensch dazu, so etwas zu tun?“
„Es ist eine Art Sucht“, sagte ich bedrückt. „Ein unstillbarer Lesehunger, der immer schlimmer wird, je mehr Buchinhalte der Wurm verschlingt. Es gibt aber zum Glück recht wirksame Therapien dagegen.“
Sie nickte, wirkte aber besorgt. „Ich möchte Ihnen etwas zeigen“, sagte sie.

Sie führte mich zu einem Regal und zeigt auf den Boden davor. „Sehen Sie das hier? Wir finden hier immer wieder Wortfetzen... Könnten das auch Nagespuren sein?“
Ich ließ mich auf ein Knie nieder und untersuchte die Spuren auf dem Boden. „Nein, Nagespuren sind das nicht“, sagte ich. „Die wären scharfkantiger. Dies sieht eher aus, als wäre der Buchinhalt von oben heruntergetropft...“
Ich richtete mich auf und untersuchte das Regal. „Sehen Sie, hier ist offensichtlich ein Buch undicht.“ Ich nahm es aus dem Regal und reichte es ihr. „Die Bindung ist beschädigt, und jetzt ist der Inhalt nicht mehr fest an die Seiten gebunden, verflüssigt sich und läuft aus.“
„Ich kümmere mich darum“, sagte sie und klemmte sich das Buch unter den Arm. Dann drehte sie sich zu mir um und holte tief Luft. „Ich sage das nur ungern, und ich bitte Sie, dies vertraulich zu behandeln, aber ich glaube, der Bücherwurm ist einer der Angestellten.“
„Was führt Sie zu der Annahme?“ fragte ich ruhig, denn mir war bereits der gleiche Verdacht gekommen.
„Erstens, die Bücher werden hier in der Bibliothek beschädigt, zweitens, es sind so viele, dass uns ein Besucher, der sich so häufig an Büchern vergreifen würde, ganz sicher aufgefallen wäre, und drittens, keine unserer Fallen hat je funktioniert. Wir haben immer wieder Bücherköder ausgelegt, die mit unsichtbarem Markiermittel behandelt waren, aber diese sind nie angenommen worden. Der Bücherwurm wusste, welche Bände er vermeiden musste. Es ist einer von uns.“
„Wen haben Sie in Verdacht?“ fragte ich leise.
Sie seufzte. „Den Büchereileiter. Ich glaube, deshalb wollte er auch nicht mit Ihnen zusammentreffen.“
„Gehen wir in sein Büro“, sagte ich.

Dort trafen wir auf seine Sekretärin. „Herr Dr. Brock ist in einer sehr unwichtigen Besprechung und benutzt dies als Vorwand, um nicht zu sprechen zu sein“, erklärte sie. „Kann ich etwas für Sie tun?“
„Nun, so wichtig ist es dann auch nicht, dass ich selbst mit ihm rede“, sagte ich. „Bitte richten Sie ihm aus, dass es sich offensichtlich wirklich um Wurmbefall handelt, und ich schlage vor, eine Lebendfalle aufzustellen. Man könnte zum Beispiel eine gemütliche Leseecke einrichten und darüber ein Fallnetz anbringen. Falls das zu keinem Ergebnis führt, hätte ich noch andere wenig hilfreiche Vorschläge zu machen, auf die Herr Dr. Brock sicher keinen Wert legen wird.
Oh, und bitte geben Sie ihm doch von mir dies“ – ich zog einen kleinformatigen, aber dicken und für seinen Umfang ungewöhnlich schweren Band aus meiner Tasche. „Wir haben mehrere Exemplare dieses Werkes in unserem Bestand, und ich denke, dies wird Ihre Sammlung bereichern.“
Ohne großes Interesse nahm sie das Buch entgegen, und ich verabschiedete mich – allerdings nur zum Schein.

Sobald wir das Büro verlassen hatten, zog ich die angehende Bibliothekarin hinter ein Regal und sagte: „Lassen Sie uns hier warten. Ich glaube, es wird nicht lange dauern, bis wir uns sicher sein können.“
„Was war das für ein Buch? Haben Sie ihm eine Falle gestellt?“ fragte sie.
„Ja, genau. Das ist eine Anthologie der Weltliteratur, eigentlich nichts besonderes, aber das hier ist ein experimentelles Stück, dass die Information extrem komprimiert. In dieser verdichteten Form passt ‘Krieg und Frieden’ auf gerade einmal siebeneinhalb Seiten. Wenn ein Bücherwurm versucht, das herunterzuschlingen, führt das zu“ – aus dem Büro drang ein leiser Schmerzenslaut – „erheblichen Verdauungsstörungen.“
Wir eilten zurück in das Büro. Dort kauerte der Büchereileiter zusammengekrümmt in einem Besuchersessel, während seine Sekretärin sich besorgt um ihn bemühte. Ich hob den angebissenen Kompaktband auf, den er zu Boden hatte fallen lassen. „Du liebe Güte“, sagte ich, „haben Sie wirklich den kompletten ‘Lederstrumpf’ auf einmal verschlungen? Ich rufe jetzt den Literaturärztlichen Notdienst, und Sie betrachten sich bitte als beurlaubt. Ich empfehle Ihnen dringend, sich in eine Therapie zu begeben.“ Dann griff ich zum Telefon und wählte die Notfallnummer.

© P. Warmann