Wintersport (ein Brief).

Liebe Schwester!

Ich schreibe dir aus meinem Winterurlaub, hier im Tal unter dem großen Laber-Gletscher, aus dem einzigen literarischen Wintersportgebiet der Alpen. Welchen besseren Ort könnte es geben, um als Bibliothekar dem täglichen Trott zu entfliehen und dabei die Welt der Literatur auf eine ganz neue Art zu erleben? Der ganze Ort ist ein Gedicht, jede Loipe ein Roman, jede Abfahrtspiste eine Erzählung! Und das ganze eingebunden in die eindrucksvolle, schneebedeckte Gebirgslandschaft – ein Traum. Allerdings drohte mir Tauwetter einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Aber der Reihe nach. Ich traf vor zehn Tagen hier ein und war sofort tief beeindruckt. Du erinnerst dich sicher an meinen Ritt über den Schimmelreiter-Deich vor drei Jahren, wo man ja beim Bau des Deiches die gesamte Novelle in die Bausubstanz eingeschrieben hat und es somit möglich wurde, dieses literarische Werk auf ganz neue Art zu erfahren. Dafür gibt es noch einige gelungene Beispiele – obwohl ich sagen muss, dass ich es recht albern fand, den Ritt über den Bodensee mit dem Tretboot zu ‘lesen’.
Das waren aber alles nur Einzelwerke. Hier hingegen hat man in einem gelungenen Zusammenspiel von natürlicher Landschaft und Schnee Dutzende von Werken zugänglich gemacht. Ich bin auf den Loipen kilometerlang durch die verschneiten Wälder gelaufen und habe aus dem Schnee über den Felsen komplette Romane gelesen. An die Abfahrtspisten dagegen sind nur kürzere Erzählungen gebunden, und die auch eher unterhaltsamer Art, schon aus Sicherheitsgründen, um die Leser nicht zu sehr vom Skifahren abzulenken.
Im Ort hingegen ist jede Straße ein Gedicht. Das ist wörtlich zu verstehen: Pflasterung und Schnee tragen Gedichte, in jeder Straße ein anderes. In der Mitte des Ortes finden sich die üblichen Verdächtigen, viele lange romantische Naturgedichte, und, ja, Goethes Wanderers Nachtlied ist natürlich auch dabei. Aber in den Seitenstraßen, den Gassen und Treppenwegen habe ich viel neues entdeckt, skurriles und auch berührendes. Und ich habe noch lange nicht den ganzen Ort erforscht.
Dies auch, weil mir das Tauwetter dazwischen kam. Am fünften Tag meines Hierseins ging es los: Es wurde stürmisch, und dann begann es zu regnen. Zuerst gefror der Regen, und in der Straße der Liebesgedichte verwandelte sich die Lyrik in schlüpfrige Verse, was ich noch ganz amüsant fand. Am Donnerstag aber wurde das Wetter ganz unerträglich. Überall taute der Schnee bis zur Unlesbarkeit, als ich aus dem Hotel trat, stürzte ein eiskalter Wortschwall vom Dach auf mich herab, und der dauernde Regen ließ den Gletscherbach gewaltig anschwellen. In der Nacht toste er so heftig und führte so viel Geröll, Eisbrocken und Gelaber, dass ich mir Ohrenstöpsel besorgen musste, um schlafen zu können.
Vorgestern dann fielen die Temperaturen, und aus dem Regen wurde Schnee. An Langlauf war nicht zu denken, die Loipen müssen erst wieder präpariert werden. Ich verbrachte daher die Tage bei Wortsalat, Buchstabensuppe und Druckerschwarzem Satztee (die übertreiben es hier gerne mit den literarischen Anspielungen) in den gemütlichen Lokalen und mit Spaziergängen im Ort. Jetzt hat es aufgehört zu schneien, auf dem Neuschnee lässt es sich glänzend lesen, und ich erfreue mich daran, in zusammengewehtem Schnee die schönste Zufallslyrik zu finden – „den toten Baum erfrischt / das Gold vom Tellerrand des Mittagslichts“.
Morgen habe ich vor, mir ein ganz besonderes Erlebnis zu gönnen: Es gibt eine mit Flutlicht beleuchtete Loipe, die einen äußerst spannenden Thriller enthält. Ich denke, du wärst begeistert – ich kann dir nur empfehlen, auch einmal einen Urlaub hier zu verbringen.

Dein dich liebender Bruder.

P.S. Ich danke dir noch einmal, dass du auf meine Schildkröte aufpasst. Wie gefällt ihr der neue, heißwasser-beheizte Schneeanzug? Hat sie Spaß beim Rodeln?

© P. Warmann