Es regnet. Alle Farben sind grau, es ist mitten am Nachmittag und wird schon
dunkel, auf eine halbherzige Weise, denn es ist den ganzen Tag nicht richtig
hell gewesen. Wir sollten Winterschlaf halten, denke ich, das ganze Land,
drei Monate von November bis Januar. Einfach alles abschalten und es machen
wie die Eichhörnchen, schlafen und nur alle paar Tage aufwachen und eine
Handvoll Nüsse essen und einen Schluck Wasser trinken. Nur würde
es nicht funktionieren, denn mittendrin liegt Weihnachten, und um das nicht
zu verpassen, ertragen wir sogar Tage wie diesen.
Ich habe Musik laufen, laut, aber das Telefon höre ich trotzdem. Es klingelt
mit jenem besonderen Ton, der mir sagt, dass die Zentrale anruft. Also gehe
ich ran.
Hallo, Agent XXXT, erklingt Verenas Stimme aus dem Hauptquartier
im fernen Berlin. Nein, kein Auftrag, aber vielleicht etwas, das Sie
interessiert: Wir hatten einen anonymen Hinweis, dass in Ihrer Stadt etwas
Seltsames vorgeht, in einem dritten Stock, der nicht existiert.
Die allgemeine Wirklichkeitsüberwachung hat dort tatsächlich eine
Anomalie festgestellt, sie können aber nicht sagen, was es ist und ob
es von Bedeutung ist. Könnten Sie mit Ihren speziellen Messgeräten
die Sache überprüfen? Falls Sie denken, dass etwas unternommen werden
sollte, geben Sie es einfach an einen X-Agenten weiter. Dann nennt sie
mir noch die Adresse.
Ich murmele Zustimmung und lege auf. Immerhin etwas zu tun, das mich wachhält.
Unten im Labor werfe ich Geräte an, die ich selbst gebaut habe und die
nicht nur empfindlicher sind als die in der Zentrale, sondern auch Dinge messen
können, von denen die dort noch nie etwas gehört haben. Ich lasse
einen Realitätsscan über die Koordinaten laufen und bekomme tatsächlich
ein starkes Signal. Nur wovon? Es gibt dort offensichtlich eine gröbere
Realitätsverschiebung, aber was hat sie ausgelöst?
Was auch immer es ist, so etwas ist mir noch nie untergekommen, weder in meiner
jetzigen dritten Karriere als einer der Spitzenagenten beim Bundesamt für
Wirklichkeitsschutz, noch in meiner ersten als einer von nur drei Professoren
für Unwirklichkeitsphysik, und auch nicht in meiner dazwischen liegenden
zweiten als der Wahnwitzige Doktor Y (ja, der, der vor einigen Jahren die
bissigen Weißwürste das Oktoberfest heimsuchen ließ und mit
den wandernden Autobahnausfahrten für völliges Chaos sorgte; darauf
bin ich noch immer stolz; etwas später bin ich dann zu den Guten
übergelaufen).
Jedenfalls, das hier ist mir neu, obwohl es im Großen und Ganzen einer
Realitätsfalte ähnelt. Interessant. Interessant genug, dass ich
mir Hut und Mantel greife und mich hinaus in den Regen begebe, um mir die
Sache von nahem anzusehen.
Die Gegend, in der das Seltsame sein Unwesen treiben soll, ist ein innerstädtisches,
nicht gerade wohlhabendes Wohnviertel. Auf drei Mietshäuser aus der Gründerzeit,
Backstein mit lustlosen Stuckornamenten, folgt eine Lücke, dann eine
Reihe von Neubauten aus den späten 1950ern. In der Lücke ein Laden,
und wenn das tatsächlich das Haus ist, das die Zentrale gemeint hat,
dann hat er wirklich einen dritten Stock, der nicht existiert: Es gibt nur
den Laden im Erdgeschoss und ein Stockwerk darüber.
Ich mache eine Messung, die genauso unklar ist wie zuvor. Immerhin: Ja, es
gibt hier eine Realitätsanomalie, sie muss sich in oder bei diesem Laden
befinden, und es ist wahrscheinlich wirklich eine Realitätsfalte, wenn
auch eine ungewöhnliche.
Also betrete ich den Laden und finde mich zwischen Räucherstäbchen,
kleinen Rosenquarz-Pyramiden, schlecht gearbeitetem Silberschmuck und mit
Spiegelscherben verzierten Wandbehängen wieder. Plakate preisen Klangschalen-Therapie
und feng-shui-geladene Wellness-Bekleidung an. Während ich mich noch
frage, was man unter Yoga im Salz zu verstehen hat, erscheint
der Ladeninhaber.
Ich zeige ihm meinen Ausweis und versuche ihm mein Anliegen zu erklären,
aber er überschüttet mich sofort mit einem eher ungeordneten Wortschwall,
der ungefähr darauf hinausläuft, dass er nicht einsieht, was ich
von ihm will, er sich nicht von Amts wegen in eine bundeseinheitlich verordnete
Standard-Realität pressen lässt und die Wirklichkeit sowieso nur
eine Illusion ist. Daher solle ich mich vom Acker machen.
Meine Versuche, ihm zu erklären, was eine Realitätsfalte ist und
was sie anrichten kann, stoßen auf taube Ohren. Als dann noch ein zweiter
Typ aus dem Hinterzimmer auftaucht und ebenfalls seiner Abneigung gegenüber
Amtspersonen Ausdruck gibt, trete ich den strategischen Rückzug an. Ich
bin kein Kämpfer.
Also gut, denke ich, als ich wieder auf der Straße stehe. Ich brauche
endlich eine vernünftige Messung, die mir sagt, womit wir es hier verdammt
noch mal zu tun haben. Am besten aus einem der Nachbarhäuser, in Höhe
des nicht existierenden dritten Stockwerks. Ich entscheide mich für den
Neubau.
Wo ich an verschiedenen Türen klingele, aber niemand da ist, oder zumindest
niemand aufmacht. Bis ich ganz oben angekommen bin. Dort öffnet jemand
die Tür, mit vorgelegter Kette: ein Mädchen, ungefähr elf Jahre
alt.
Ich erkläre ihr, wer ich bin und was ich will Amt für Wirklichkeitsschutz,
möglicherweise gefährliche Realitätsfalte, Messungen ,
und sie sieht sich meinen Ausweis ganz genau an und sagt dann: Ich darf
niemanden reinlassen, wenn meine Mutter nicht da ist. Dann runzelt sie
die Stirn. Was ist überhaupt eine Realitätsfalte?
Eine Verzerrung der Wirklichkeit, die bewirkt, dass seltsame Dinge geschehen,
für die es keine Erklärung gibt. Zum Beispiel verschwindet ein Socken
aus der Waschmaschine, und statt dessen liegt ein merkwürdiges Plastikteil
in der Trommel. Oder die Tomaten im Kühlschrank sind plötzlich würfelförmig.
Oder Kekse? fragt sie. Moment.
Sie verschwindet kurz, kommt wieder und reicht mir etwas. Es sieht ganz nach
einem selbst gebackenen Weihnachtskeks aus, mit einer halben Mandel drauf,
nur die Form ist ungewöhnlich. Ein Haifisch? Ziemlich cool,
sage ich.
Ja, nur als wir ihn ausgestochen haben, war es ein Tannenbaum,
sagt sie. Und die Sterne sind jetzt Schmetterlinge ... und die Lottozahlen
gestern waren auch merkwürdig: Erst kam zweimal die 22 und am Ende noch
die 104.
Verdammt. Das klingt nach Streustrahlung, und wenn die bis hierhin reicht
... ich muss unbedingt eine aussagefähige Messung zustandebekommen.
Ich sehe nach oben. Was ist über uns?
Sie sieht mich etwas seltsam an. Das Dach?
Ja, aber gibt es einen Dachboden? Kommt man da rein? Ich würde
dann von da aus messen.
Das ist der Trockenboden ... ich könnte Ihnen den Schlüssel
leihen.
Das macht sie dann auch, und damit ich nicht den Schlüssel verschludere,
und bestimmt auch aus Neugier, kommt sie mit. Der Trockenboden hängt
voller frisch gewaschener Laken, ich winde mich durch bis zur Außenmauer
und messe. Diese Messung ist noch wirrer als die anderen zuvor. Ich starre
abwesend auf den Bettbezug vor mir und murmle: Elender Mist.
Finden Sie? fragt die Kleine erfreut. Ich habe mir schon
immer gedacht, wenn auf meinem Bettzeug so ein grinsendes Auto wäre,
ich könnte nicht schlafen. Ich hätte Angst, es kommt dann und frisst
mich.
Jetzt erst wird mir bewusst, dass die Bettwäsche ein rotes Auto zeigt,
das fies grinsend seine Kühlergrill-Zähne bleckt. Offensichtlich
Kinderbettwäsche. Ich schaudere. Du hast völlig Recht,
sage ich. Ich meinte aber eigentlich die Messung. Es hilft nichts, ich
brauche Verstärkung.
Ich zücke mein Telefon und rufe Steffen an. Normalerweise bin ich ein
Einzelgänger und habe immer allein gearbeitet, aber seit er bei der Truppe
ist, sind wir so etwas wie ein Team. Außerdem ist er ein Freund.
Hallo, Agent XXA, sage ich, als er sich meldet. Ich bräuchte
deine Unterstützung.
Ich habe heute frei, sagt er und klingt deutlich lustlos. Ganz
offiziell. Meine Oma feiert ihren 80. Geburtstag. Kannst du die Welt diesmal
nicht alleine retten?
Hier gehen seltsame Dinge vor in einem dritten Stock, der nicht existiert,
versuche ich ihm die Sache schmackhaft zu machen. Die Geräte zeigen
äußerst merkwürdige Werte, und ich komme nicht weiter, weil
zwei sehr ungehaltene Gebäudeeigentümer mich nicht näher heranlassen.
Was für Werte? Steffen klingt jetzt interessiert. Also
gut, ich komme, aber um halb sechs muss ich wieder weg, egal wie es steht.
Sonst komme ich zu spät zur Feier.
Die nächsten zehn Minuten verbringe ich auf der anderen Straßenseite,
gegenüber dem Laden, in einem Buswartehäuschen, denn es schüttet
noch immer. Die Kleine steht neben mir. Als ich elf war, hätte ich mir
eine solche Gelegenheit auch nicht entgehen lassen. Schließlich kommt
Steffen mit einem Taxi.
Ich gebe ihm eine kurze Zusammenfassung der Lage und vergattere die Kleine,
nicht näher an den Laden heranzugehen. Dann ziehen wir los.
Seltsamerweise ist im Laden die Stimmung diesmal eine völlig andere.
Beide Typen sind kühl und völlig unaufgeregt, lassen uns messen
wieder nichts Brauchbares, nur das vage Gefühl, dass etwas Großes
ganz in der Nähe ist.
Ich erwähne die Hinweise auf seltsame Geschehnisse im dritten Stock,
und leicht überheblich lädt der Ladenbesitzer uns ein, nach oben
zu gehen und uns zu vergewissern, dass es keinen dritten Stock gibt, und auch
keinen zweiten, was das angeht.
Wir nehmen sein Angebot an. Tatsächlich finden wir hinter dem Laden nur
Lagerräume, eine nette Kaffeeküche und die Tür zur Kellertreppe.
Oben im ersten Stock liegt eine kleine Ein-Mann-Wohnung, recht gemütlich
mit vielen Grünpflanzen, obwohl ich mir kein quietschbuntes Bild eines
tibetischen Wächterdämonen über das Bett hängen würde.
Was wir nicht finden, ist ein Zugang zu irgendwelchen nicht existierenden
weiteren Stockwerken.
Und was jetzt? fragt Steffen, als wir wieder unten im Laden stehen.
Wo sollen wir noch suchen? Schließlich kann man zwei zusätzliche
Stockwerke nicht einfach im Wäscheschrank verstecken.
Ich will ihm schon zustimmen, da fällt mir auf, dass die beiden Typen
plötzlich besorgte Blicke tauschen. Nein, sage ich langsam,
nicht im Wäscheschrank. Aber vielleicht in einer Abseite ... oder
im Keller? Der Ladenbesitzer wird blass. Das ist es. Sie haben
den zweiten und dritten Stock in den Keller geschafft. Komm!
Als ich die Kellertür aufreiße, sehe ich es: Die Treppe führt
gleichzeitig nach oben und nach unten. Es ist ein Anblick, der einem das Hirn
umdreht, aber trotzdem steige ich mutig hinunter, beziehungsweise hinauf,
beziehungsweise beides. Weitgehend orientierungslos komme ich oben, das heißt
unten, auf jeden Fall aber in einem anderen Stockwerk an. Steffen taumelt
neben mir gegen die Wand und hält sich den Kopf. Dann sieht er sich um.
Wie bitte? Wir sind wieder im ersten Stock?
Nein, im zweiten, erkläre ich. Oder besser, in der
zweiten Version vom ersten. Die Realitätsfalte hat ihn verdoppelt. Solche
Verdopplungen-ungen kommen-ommen doch-och öfter vor-or.
Deine Stimme hat ein Echo, murmelt Steffen. Seine auch.
Wir steigen die Treppe weiter hinauf diesmal nur hinauf zum
berühmten dritten Stock. Er besteht aus einem einzigen großen,
leeren Raum. Leer bis auf das Etwas in seiner Mitte. Ich kann es nicht richtig
erkennen, aber ich muss keine Messung machen, um zu wissen, dass es das ist,
was wir suchen, die Quelle aller Anomalien. Ich mache einen Schritt darauf
zu und stehe vor der gegenüberliegenden Wand. Ich mache einen weiteren
Schritt zur Mitte und finde mich in einer Ecke wieder. Oh. Dies ist ein Labyrinth
ohne Mauern. Aber ich bin praktizierender Chaot, und dies hier gleicht, mehr
oder weniger und niemals wirklich, dem großen Mandala der unterteilten
Leere, und so finde ich meinen Weg. Steffen hält sich an meiner Schulter
fest und lässt sich leiten.
Dann stehen wir in der Mitte. Steffens Augen werden groß. Nein!
Siehst du das? Der Idiot hat eine Realitätsfalte fixiert! Siehst du die
Verzerrungen? Die Wand wird schon dünn! Er sieht genauer hin. Mit
Kristallpyramiden und Wäscheklammern?
Technik ist nicht alles, antworte ich. Realitätsfalten sind
normalerweise flüchtige Phänomene, sie halten nicht lange und verschwinden
nach einiger Zeit von selbst. Aber es gibt Möglichkeiten sie festzuhalten,
und das offensichtlich nicht nur mit den Mitteln der Unwahrscheinlichkeitsphysik.
So hatte der Ladenbesitzer mit seinem esoterischen Wissen eine zufällig
auftauchende Falte fixiert und dadurch zwei zusätzliche Stockwerke gewonnen.
Schön und gut, aber diese Falten sind Verzerrungen in der Wand zwischen
dieser uns vertrauten Wirklichkeit und dem unbeschreiblichen Anderen,
das sie umgibt. Hält man eine Falte fest, wird die Wand an dieser Stelle
überbelastet und dünner und dünner. Bis sie bricht und das
Andere unsere Wirklichkeit überschwemmt. Ich habe das einmal erlebt,
und ich weiß bis heute nicht, ob es so war und ob diese Wirklichkeit,
in die ich zurückgefunden habe, wirklich ist, und ob es mich immer noch
gibt oder jemals wirklich gab.
Also gut, sage ich. Wir lösen die Verankerungspunkte,
und dann nichts wie raus.
Schnell, aber koordiniert lösen wir Wäscheklammern und schleudern
Pyramiden beiseite. Dann machen wir, dass wir wegkommen, denn es ist keine
gute Idee, in einer zusammenbrechenden Realitätsfalte zu stecken
wenn die allgemeine Wirklichkeit übernimmt, könnte man sich ein
Dutzend Meter über dem Boden befinden, oder mitten in einer Mauer.
Glücklicherweise ist der Weg zur Treppe frei, kein Labyrinth mehr, und
wir rennen nach unten, und dann geht etwas wie eine Welle über uns hinweg,
und die Treppe nach unten ist plötzlich die Kellertreppe nach oben, und
ich falle nach vorne und schlage mir das Knie an. Wir holen tief Luft und
machen automatisch eine Messung. Diesmal ist das Ergebnis eindeutig: Keine
Anomalien weit und breit, die Falte hat sich aufgelöst.
Im Laden haben die beiden Typen sich hinter dem Ladentisch verkrochen. Wir
gehen ohne Abschiedsgruß. Draußen verabschieden wir uns von dem
Mädchen, das von der Farbenshow schwärmt. Tatsächlich: Der
Laden hat einen neuen Anstrich, Fraktalmuster hauptsächlich in Schwarz
und Limonengrün. Passt immerhin zu dem, was sie dort verkaufen.
Dein Mantel gefällt mir auch in Hellgrau, sagt Steffen plötzlich.
Tatsächlich vorher war er schwarz. Deine Jacke dagegen...,
werfe ich ein. Vorher war sie aus grünem Nylon, aber jetzt... Kamelhaar?
fragt er entsetzt.
Deiner Oma könnte sie gefallen, tröste ich ihn.
Er sieht auf die Uhr. Ich muss los, schon Viertel nach Fünf.
Er ruft sich ein Taxi, ich auch, und auf der Heimfahrt denke ich, dass das
Leben doch zu interessant ist für Winterschlaf.
© P. Warmann