Kirschrot.

Das Telefon klingelt. Ich fluche und lege den Lötkolben beiseite – ich bin gerade dabei, die Irrealitäts-Generatoren zu rekonstruieren, die wir bei meinem letzten Einsatz verloren haben. Das Problem dabei ist, dass ich die Dinger zwar selbst entwickelt habe, dass ich damals aber noch der Wahnwitzige Doktor Y war und ich mich heute nur ungern noch einmal in den Geisteszustand versetzen möchte, der nötig war, um die Generatoren erfinden zu können. Aber vielleicht werde ich genau das machen müssen, denn wir brauchen sie, und in meinem jetzigen Zustand schaffe ich es nicht einmal, mir vorzustellen, wie sie funktionieren könnten.
Das Telefon klingelt noch einmal, und ich schnappe es mir. Ich hatte es auf ‘unerreichbar’ gestellt, was bedeutet, dass nur noch die Zentrale mit einem Notfallcode durchkommt, oder einer meiner wenigen Freunde. Und ein Blick auf das Display sagt mir, dass der Anrufer Steffen ist, Agent XXA, ein Freund und wie ich tätig für das Amt für Wirklichkeitsschutz.
„Hallo, David“, sagt er, als ich mich melde. „Ich habe hier ein eher ungewöhnliches Problem, und vielleicht kannst du mir da raushelfen. Mich verfolgt ein Kirschrot.“
„Oh“, sage ich, „das ist nun wirklich mal etwas anderes. Wie bist du denn dazu gekommen?“
„Es ist nicht so witzig, wie es sich anhört“, sagt er und klingt müde. „Können wir uns treffen? Dann erzähle ich dir alles. Und, David, zieh dir besser irgendwelche alten Klamotten an – es färbt ab.“ Dann erklärt er mir noch, wo ich ihn finden kann, und legt auf.

Verfolgt von einem Kirschrot, und einem, das abfärbt? Ich frage mich, was dahinterstecken könnte. Vorsichtshalber packe ich alle Messgeräte ein, die ich finden kann (mein Labor ist nach den Prinzipien der Angewandten Chaostheorie organisiert, und das bewirkt, dass ich manchmal Dinge nicht finden kann, obwohl ich genau weiß, wo sie sind).
Und ich soll mir alte Klamotten anziehen? Das ist ein echtes Problem, denn ich habe eine Vorliebe für italienische Designermode und Kaschmirpullover, und was schäbig wird, landet in der Kleiderspende (als Tripel-X-Agent beim Amt bekomme ich ein Gehalt, von dem ich zu meiner Zeit als Professor für Unwahrscheinlichkeitsphysik nur träumen konnte, und dabei sind die Gefahren- und Unwirklichkeitszulagen noch nicht mitgerechnet). Schließlich krame ich eine Hose heraus, auf die ich zur Not verzichten könnte, und einen Pullover, der bei einem Einsatz ein quietschgrünes Juliamengen-Fraktal-Muster abbekommen hat. So ausgerüstet breche ich auf.

Ich treffe Steffen auf einem Spazierweg entlang jener großen Wasserfläche, die das Herz dieser Stadt bildet. Er ist nicht zu übersehen, denn seine Jacke leuchtet in sattestem Kirschrot. Offensichtlich war seine Warnung nicht übertriebenen – ein Kleidungsstück in dieser Farbe hätte er sich niemals gekauft. Als er mich sieht, hebt er die Hand.
„Komm mir nicht zu nahe“, warnt er mich, „es sei denn, du magst Kirschrot.“
Ich sehe mich um. „Deine Jacke scheint aber das einzige zu sein, was hier betroffen ist“, merke ich an.
„Solange ich in Bewegung bleibe, kann es sich offensichtlich nicht auf die Dinge konzentrieren, aber sobald irgend etwas längere Zeit in meiner Nähe ist... Sieh es dir an.“
Er bleibt neben einem Plakat stehen, das eine Ausstellung chinesischer Jadeobjekte ankündigt. Einen Augenblick lang geschieht nichts, und dann beginnt es: Kirschrot kriecht über die blauen Buchstaben, färbt sie, greift dann auf das Jadegrün über, dann auf den goldgelben Hintergrund... Es ist, als ob die Farbe über das Plakat fließen würde, weder langsam noch schnell, aber unaufhaltsam. Kirschrot, satt und leuchtend, ersetzt eine Farbe nach der anderen.
Steffen geht weiter, und als wir uns drei oder vier Meter entfernt haben, stoppt die Kirschrotisierung des Plakats.
„Es übernimmt zuerst die kräftigen Farben“, erklärt mir Steffen. „Braun- und Grautöne werden erst später beeinflusst, und Schwarz anscheinend gar nicht. Außerdem greift es glücklicherweise keine Lebewesen an, aber sonst... Wenn ich lange genug stehen bleibe, färbt es auch den Sand neben meinen Füßen, und Asphalt, Holz, einfach alles. Dich hat es auch schon erwischt.“ Er zeigt auf meine Füße, und ich sehe, dass meine Schnürsenkel kirschrot sind – meine Socken übrigens auch. Die graue Hose und mein schwarzer Mantel halten noch durch.
„Ach, Mist“, sage ich. „Hast du irgendeine Ahnung, was das ausgelöst hat?“
„Oh ja. Alles begann mit einem Einsatz für unsere Männer in Schwarz. In einem Bistro kam es zu Wirklichkeitsverschiebungen – offensichtlich sind dort isolierte Eigenschaften aufgetaucht und haben sich an Gegenstände geheftet. Es fing damit an, dass ein ‘Spitz-und-Scharfkantig’ die Tomatencremesuppe übernommen hat.“
„Autsch“, sage ich.
„Ja, aber zum Glück haben sie es gemerkt, als die Suppe beim einfüllen den Löffel durchgeschnitten hat, und dann nahm sie im Teller Formen an. Gleich danach hat dann ein ‘Mehrfach Verknotet’ eine Kaffeetasse befallen und dann ein starker Pfefferminzgeruch das Smartphone eines Gastes übernommen. Daraufhin hat jemand das Amt verständigt, und die Zentrale hat unsere Jungs in Schwarz geschickt, aber die haben schnell gemerkt, dass sich die unerwünschten Eigenschaften nicht so leicht de-realisieren ließen. Es war offensichtlich keine gewöhnliche Realitätsstörung und auch kein Chaoswirbel.
Daraufhin haben sie mich angerufen, und ich bin hingefahren und habe die einzelnen befallenen Gegenstände identifiziert und die Parameter berechnet, die wir brauchten, um sie zu entwirklichen. Es war alles ziemlich komplex, aber harmlos und eigentlich auch recht witzig.“ Steffen grinst. „Ich meine, ein Stück Sahnetorte mit der Zusatzeigenschaft ‘Hell-und-Klar’ hat schon was – fast durchsichtig, und leuchtet von innen heraus. Dann war da noch der Zuckerstreuer mit der Eigenschaft ‘Steht im Weg’, und ein ‘Heiß-und-Fettig’ ausgerechnet am Toilettenpapier... Aber das waren alles Eigenschaften, die sich an einen bestimmten Gegenstand gebunden haben, und nichts davon hat sich weiter ausgebreitet.“
„Bis auf dein Kirschrot“, sage ich nachdenklich.
„Ja, und das habe ich erst gemerkt, als ich schon wieder auf dem Weg nach Hause war. Als ich die Jacke anzog, war sie noch türkis, und ein paar Straßen weiter merke ich plötzlich, dass sie kirschrot ist. Ich habe sofort gemessen, und ich dachte, das Rot hätte sich an die Jacke gebunden, was ja nicht weiter schlimm wäre, aber...“
„Es ist an dich gebunden“, sage ich, denn während er mir die ganze Geschichte erzählt hat, habe ich eigene Messungen durchgeführt. Die Daten sind eindeutig. „Und so einfach eliminieren kann man es nicht.“
„Nein“, sagt Steffen ernst. „Und es breitet sich aus. David, das ist kein Witz: Es breitet sich unaufhaltsam aus. Wenn wir nichts unternehmen, wird dieses Kirschrot die ganze Welt erobern.“
Ich muss wohl etwas zweifelnd ausgesehen haben, denn Steffen sagt mit Nachdruck: „Ich habe die Berechnungen auf den Server gestellt, sieh sie dir an. Es beginn dort, wo ich bin, aber wenn alles in meiner näheren Umgebung umgefärbt ist, breitet es sich weiter aus. Wenn ich in Bewegung bleibe, verteilt es sich zuerst, aber das Endergebnis ist das gleiche: In weniger als einem Jahr wird diese Stadt kirschrot sein, Mitteleuropa in etwa 14 Jahren, und in 58.3 Jahren die gesamte Erde. Kirschrot. Ohne Ausnahme.“ Er sieht mich düster an.
„Dann müssen wir uns etwas einfallen lassen, um das zu verhindern“, sage ich sachlich.
„Oh, eigentlich ist das gar kein Problem“, sagt Steffen und lacht hart. „Man muss nur den Gegenstand vernichten, an den das Kirschrot gebunden ist.“
„Unglücklicherweise bist das aber du“, sage ich leise.
„Ja, aber ganz ehrlich: Wenn das die einzige Möglichkeit ist, die Welt daran zu hindern, in Kirschrot zu versinken, dann soll es so sein. Wir ... oh, verflucht.“
Er macht einen schnellen Schritt zur Seite, denn wir sind der Frau, die vor uns den Spazierweg entlanggeht, offensichtlich zu nahe gekommen. Sie trägt einen eleganten weißen Mantel – das heißt, er war weiß, jetzt gleitet langsam, vom Saum aufwärts, eine Welle Kirschrot an ihm empor.
„Siehst du, was ich meine?“ fragt Steffen bitter.
„Jetzt komm“, sage ich und lege meinen Arm um seine Schulter – er ist ein Freund, und egal, ob mich das von Kopf bis Fuß kirschrot einfärbt, er braucht das jetzt. „Wir haben schon unmöglichere Probleme gelöst. Lass uns konzentriert über die Sache nachdenken. Vielleicht finden wir in den Daten eine Lösung?“
„Warum muss es ausgerechnet ein Kirschrot sein?“ sagt Steffen mit einem schiefen Lächeln. „Wieso nicht ein schönes warmes Gelb?“
„Gelb allein macht auch nicht glücklich“, sage ich, und wir müssen beide lachen. Und dann fällt mir etwas auf.
„Sieh mal hier“, sage ich und zeige auf das Juliamengen-Muster auf meinem Pullover. Das war quietschgrün und färbt sich gerade kirschrot – soweit zu erwarten, aber etwas ist anders.
„Es geht extrem langsam“, sagt Steffen nachdenklich. „Wieso?“
„Ich glaube, weil es ein Fraktal ist. Das Kirschrot geht systematisch vor – es füllt das gesamte Innere der Struktur. Aber ein Fraktal ist unendlich verästelt, und offensichtlich folgt das Kirschrot allen Verzweigungen. Das dauert. Ich fürchte nur, der Pullover ist zu grob, so dass dieses Fraktal nicht wirklich unendlich ausgedehnt ist. Das Kirschrot wird es irgendwann gefüllt haben. Aber ... sieh mal.“
Ich ziehe Steffen in die Nähe einer Parkbank, die tannengrün gestrichen ist – und dies auch bleibt.
„Im Moment ist unser Rot nur auf das Fraktal konzentriert“, sage ich. „Das sollte uns zumindest ein oder zwei Stunden Zeit verschaffen. Und ... Fraktale ... Ordnung und Chaos ... Steffen, ich glaube, ich habe eine Idee.“
In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. „Ich glaube, ich weiß, wie wir dieses Kirschrot loswerden. Ich muss eines von meinen Geräten holen... Am besten du ziehst den Pullover an.“ Ich ziehe meinen Mantel aus und streife mir den Pullover über den Kopf, wobei ich darauf achte, mich nicht zu weit von Steffen zu entfernen, denn wenn ich das tue, werden wir das Kirschrot aus dem Fraktal verlieren.
Steffen starrt mich an. „Du trägst seidene T-Shirts als Unterhemden?“
„Äh ... Lassen wir das jetzt. Nimm den Pullover. Und ruf die Polizei, sie sollen hier alles um dich herum weiträumig absperren. Ah ... wenn meine Idee funktioniert, lösen wir das Problem, aber es könnte gefährlich für dich werden. Wahrscheinlich zumindest unangenehm.“
Ich sehe ihn fragend an, aber er winkt ab. „Lass uns das Kirschrot loswerden und die Welt retten.“
Ich ziehe meinen Mantel wieder über und rufe ein Taxi.

Zwanzig Minuten später bin ich wieder da. Mehrere Streifenwagen sind am Ort des Geschehens, Polizisten ziehen Absperrband, und einige kleine Grüppchen Neugieriger haben sich angefunden. Sie fragen sich offensichtlich, was es mit dem jungen Mann in der kirschroten Jacke auf sich hat, der in der Mitte der Absperrung einsam an einer Parkbank lehnt.
Ich zeige den Polizisten meinen Ausweis. „Agent XXXT vom Amt für Wirklichkeitsschutz. Ich leite die Aktion. Achten Sie einfach darauf, dass niemand die abgesperrte Zone betritt, hier bricht nämlich gleich das Chaos los. Oder auch nicht.“
Damit gehe ich zu Steffen. Er sieht das Gerät, das ich bei mir trage. „Du hast den Chaosgenerator geholt? Wie willst du ihn einsetzen?“
„Dieses Kirschrot schafft mehr Ordnung – es färbt alles einheitlich ein, was, mathematisch gesehen, einer Zunahme des Ordnungsgrades entspricht.“ Steffen nickt. „Auch ein Fraktal ist Ordnung, zwar sehr komplex und rekursiv, aber jeder Punkt ist doch eindeutig definiert. Ich glaube, dieses Kirschrot braucht Ordnung, und es dürfte große Schwierigkeiten mit dem Chaos haben.
Ich will versuchen, in das Fraktal eine Portion Chaos zu induzieren. Wenn das gelingt, müsste das Rot im Fraktal gefangen sein, jedenfalls deuten deine Messungen darauf hin. Aber natürlich bleibt da ein Rest Unsicherheit...“
„Was soll’s“, sagt Steffen. „Was haben wir zu verlieren? Aber ich werde ganz schön was von der Chaosstrahlung abbekommen, oder?“
„Ich habe den Generator überarbeitet und kann die Wirkung jetzt viel feiner bündeln“, beruhige ich ihn. „Allerdings kann man mit einem Chaosgenerator natürlich nie wirklich präzise arbeiten... Zum Glück ist hier nicht viel, das kaputt gehen kann, oder zumindest nichts Wichtiges. Aber wir sollten alle empfindlichen Geräte in Sicherheit bringen.“
Also schaffe ich unsere Messgeräte, Handys und so weiter hinter die Absperrung zu den Polizisten, dann baue ich den Chaosgenerator auf. Ich richte ihn so genau wie möglich auf das Fraktal aus, das inzwischen knapp zur Hälfte vom Kirschrot übernommen worden ist. Und das alles in einem perlgrauen Seidenshirt vor gespannt zuschauendem Publikum, denke ich.
„Bereit?“ frage ich Steffen.
Er holt tief Luft. „Wünsche mir Glück“, sagt er.
Ich nicke, und dann drücke ich den Knopf.

Wind heult auf und überschüttet uns mit Staub, wir verschwinden in einer Staubwolke, und einen Augenblick sehe ich gar nichts, dann löst sich die Wolke in Staubwirbel auf, die in alle Richtungen auseinander laufen, und ich versuche, das Fraktal zu erkennen, aber dann sehe ich hinter Steffen etwas aufsteigen, und höher und höher ragen, und ich kann gerade noch „Vorsicht!“ schreien, da bricht die Welle über uns herein, zum Glück nur Wasser, aus der Wasserfläche im Park.
Ich schüttle mich und streiche mir das Wasser aus den Augen. „Soliton-Wellen“, sage ich. „Daran hätte ich denken müssen. Was ist mit dir, bist du in Ordnung?“
„Ich bin nass“, sagt Steffen. „Aber sieh nur, es hat geklappt!“
Er zeigt auf den Pullover. Dort ist das Fraktal, fast unverändert, und das Kirschrot, das darin hin und her schwappt, eingeschlossen, wie wahnsinnig auf der Suche nach einem Ausgang. Aber es findet keinen.
Steffen zerrt sich den Pullover vom Leib und legt ihn auf den Boden. „Meine Tasche!“ ruft er, und ein mutiger Beamter bringt sie, und auch meinen Mantel. Wir messen. Dann sehen wir uns an und grinsen, denn es hat funktioniert.
„Jetzt müssen wir nur noch den Pullover eliminieren, und das Kirschrot ist Geschichte“, sagt Steffen und holt aus seiner Tasche eine Strahlenpistole, eine kleine Version der Kanonen, die die Männer in Schwarz benutzen. „Treten Sie ein Stück zurück“, sagt er zu dem Polizisten, und dann justiert er die Kanone sehr sorgfältig, und drückt ab. Pullover und Kirschrot hören auf zu existieren.

Während die Polizisten die Absperrung aufheben und die Zuschauer sich langsam zerstreuen, überprüfen wir beide uns auf Schäden. Zum Glück habe ich es wirklich geschafft, die Streustrahlung gering zu halten: Steffens Gürtelschnalle hat sich in eine Art Schiebepuzzle verwandelt, und seine Hosentaschen sind verschwunden. Und mein T-Shirt hat sich von innen nach außen gewendet.
„Lass uns zu mir nach hause gehen und trockene Sachen anziehen – ich leihe dir welche“, schlage ich vor. „Dann sollten wir einen Bericht schreiben, solange wir uns noch an alles erinnern. Der nächste Agent, dem so etwas begegnet, sollte wissen, wie man damit fertig wird.“
Steffen ist auch dieser Meinung, und die Polizisten sind so freundlich, uns mit einem Streifenwagen zu fahren.

© P. Warmann