Der Sturm.

Jemand pfiff. Ich hörte das Pfeifen im Traum, keine Melodie, aber in gewisser Weise vielleicht doch, eine Folge von Tönen, die manchmal wie der langgezogene Schrei einer Möwe klang, oder wie das Sausen des Windes in der Takelage und das ferne Tosen eines mächtigen Sturms. Aber trotzdem war es ein Mensch, der da pfiff und immer wieder dieselbe Tonfolge wiederholte. Am ehesten war es ein Ruf ... ein Signal? Nein, aber ein Ruf, der etwas da draußen erreichen sollte, und etwas bewirken.
Dann sah ich den Rufer. Er tanzte, während er pfiff, tanzte am Strand im ersten Morgenlicht. Er trug eine Art brauner Kutte mit einer Kapuze, und ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, während er in meinem Traum wild tanzte und seine Arme in die Höhe warf und pfiff, die ganze Zeit pfiff.
Während ich dies träumte, wusste ich, dass ich träumte, und wunderte mich darüber, warum ich ausgerechnet dieses abgedrehte Zeug träumen musste. Normalerweise spielen meine Träume unter Wasser. Dann verblasste der Traum, oder ich glitt in tieferen Schlaf, aber das Brausen des Sturmes begleitete mich auch dorthin.

Als ich aufwachte, war es heller Morgen. Ich blieb noch einen Augenblick mit geschlossenen Augen liegen und lauschte auf das Zischeln des Windes im Reet – mein Zimmer liegt unter dem Dach. Kein Pfeifen. Aber der Wind brachte die Nachricht von einem großen Sturm, noch weit entfernt über dem offenen Meer, noch nicht so stark, wie er sein würde, aber er war da, drehte sich träge, sammelte seine Kraft und zog auf uns zu. Ich schwang die Beine aus dem Bett und ging ins Bad.

Unten in der Küche begrüßten mich die Diener mit jener respektlosen Höflichkeit, mit der sie mir zeigten, dass ich immer noch nur ein Junge war mit meinen 22 Jahren und auch in Abwesenheit meiner Mutter nicht wirklich der Herr im Haus. Zum Frühstück gab es Räucherlachs und eingelegten Hering, und natürlich wussten sie von dem Sturm. Er würde die Küste am frühen Abend erreichen, und mit ihm kam eine Flut, auf die sich schon jetzt überall im Land die Menschen vorbereiteten. Es würde ein mächtiger Sturm werden, und eine mächtige Flut. Die Diener nahmen es gelassen – die Insel war geschützt und würde auch diese Flut abwehren, wie alle anderen zuvor.

Nach dem Frühstück ging ich den Strand hinauf nach Norden. Es war ein paar Stunden nach dem Höchststand der Flut und das Wasser hätte ablaufen sollen, aber die Brandung ging immer noch hoch. Außer mir wanderte niemand über diesen Strand an diesem Morgen, und ich genoss den Tag. Über mir zogen Wolkenfetzen über einen grauen Sturmhimmel, der Wind flüsterte in mein linkes Ohr, grüne Wellen brachen sich vor dem Strand, und auf den Dünen rechts von mir wiegte sich der Strandhafer.
Ungefähr hier, dachte ich, hatte die Gestalt in meinem Traum getanzt. Da drüben war die Düne, vor der ich sie gesehen hatte, und dort – – ich sah genauer hin: Ja, tatsächlich, dort waren Spuren im Sand. Ich ging hinüber. Es hatte in der Nacht geregnet, und hier, am Rande der Dünen, war der Sand feucht und fest, und ich konnte deutlich sehen, wo tanzende Füße ihre Spuren hinterlassen hatten. Jemand hatte nicht nur in meinem Traum getanzt, sondern auch in der wirklichen Welt, zur gleichen Zeit und am gleichen Ort.
Im Traum war es mir vorgekommen, als wenn er (Er? Es hätte genau so gut eine Frau sein können) nur wild herumgehüpft war, aber seine Füße hatten eine Bahn in den Sand gezogen, eine Schlinge oder einen endlosen Knoten. Ein Zeichen oder eine Glyphe? Es sah ungefähr so aus, als hätte man versucht, eine Brezel zum Buchstaben ‘g’ zu biegen. Falls das Zeichen eine Bedeutung hatte, kannte ich sie nicht.
Ich ging weiter, nachdenklich. Was war hier geschehen, und vor allem, warum hatte ich davon geträumt? Ich ging noch ein Stück, dann setzte ich mich auf einen Klotz Treibholz, und die Windgeister, die im Strandhafer gespielt hatten, kamen zu mir. Sie wisperten und lachten und begannen mit ihren schlanken Fingern meine Haare zu kämmen. Windgeister lieben es, den Menschen die Haare zu zerzausen, aber weil ich so etwas wie ein Verwandter bin, kämmen sie sie mir respektvoll. Ich lächelte und ließ ihnen ihren Spaß – meine Haare fallen lang über meinen Rücken bis zu meinem Gürtel, und damit zu spielen lieben sie besonders.
„Jemand tanzt am Strand und pfeift dazu“, sagte ich. „Wisst ihr etwas darüber?“ Ich hörte ein erschrockenes Hauchen, und dann waren sie fort. Verblüfft stand ich auf, aber sie waren wirklich nicht mehr da – keine zarten Finger in meinen Haaren, kein Huschen im Strandhafer, kein Wispern im Wind. Sie waren geflohen. Warum hatte meine Frage sie so erschreckt?

Noch nachdenklicher ging ich weiter. Ich wollte zur äußersten Nordspitze der Insel, weil man dort im Winter fast immer den einen oder anderen Folger treffen kann. Auch an diesem Morgen: Einer von ihnen lag auf dem Sand. Er sah wie ein halb erwachsener Seehund aus, wie ein Nachkomme aus diesem Jahr, und das hieß, er war wahrscheinlich 13 oder 14 Jahre alt.
An dieser Stelle muss ich, glaube ich, etwas erklären. Menschen können Windgeister nicht sehen und würden sie nur als eine Bewegung im Gras wahrnehmen oder als eine Bö, die ihnen durch die Haare fährt. Für sie würde ein Folger wie ein gewöhnlicher Seehund aussehen, aber ich bin kein Mensch. Genau genommen bin ich eine komplizierte Art Dreifach-Mischling: etwa zu einem Drittel Mensch, nicht ganz zur Hälfte Nix (oder Nöck oder Wassermann) und zu einem Viertel, von meines Vaters Seite, habe ich Sturmreiter-Blut.
Sturmreiter sind Luftwesen, die mit dem Wind fliegen und manchmal für einige Zeit menschliche Gestalt annehmen können. Dann können sie mit Menschen Kinder zeugen, und so ein Mischling war mein Vater (war, weil ihn sein Sturmblut zwar zu einem großartigen Hubschrauberpiloten gemacht hatte, aber als Materialermüdung den Heckrotor brechen ließ, half ihm das auch nichts mehr). Windgeister sind ihre kleinen, unsichtbaren Vettern.
Ich kann mich nicht in ein Luftwesen verwandeln, aber weil ich fast zur Hälfte Nix bin, kann ich die Wassergestalt unserer Art annehmen. Allerdings bin ich da ein wenig eingeschränkt, denn ich habe ziemlich verkümmerte Kiemen und kann nicht unbegrenzt unter Wasser bleiben – ich muss zum Atmen auftauchen wie ein Mensch. Das trägt mir die unausgesprochene Verachtung unserer Diener ein, die Fast-Vollblut-Nix sind und jeden Tag für ein paar Stunden unter Wasser verschwinden, ohne einmal aufzutauchen. Die Familie allerdings, diese über alle Meere verbreitete Familie mit ihren Clans und Sippen und Bündnissen und geheimen Geschäften, hält mich für ein wichtiges Mitglied.
Und was sind Folger? Sie sind unsere Verwandten, obwohl manche von uns das lieber herunterspielen. Sie nehmen im tiefen Wasser ebenfalls die Wassergestalt an, aber an Land zeigen sie sich als Robben. Sie sind unsere Gefolgsleute und Verbündeten, und wir sprechen dieselbe Sprache.

Dieser Folger gab wie gesagt im Moment den Seehund und lag knapp oberhalb der Wasserlinie am Strand. Ich setzte mich zu ihm. „Hallo“, sagte ich, und er antwortete mit „Uh“, was ungefähr dasselbe bedeutete.
„Ein großer Sturm kommt“, meinte ich, und er sagte „Uh“, diesmal verächtlich, und in der Wassersprache: „Drei Tage schwimmen ... nichtmal für einen Seehund ein Problem. Und wir können unter den Wellen bleiben.“
Ich nahm einen angetriebenen Krabbenpanzer auf und drehte ihn zwischen den Fingern. „Seltsame Dinge geschehen: Jemand tanzt am Strand und pfeift, und ich träume davon. Weißt du, was das zu bedeuten hat?“
„Uuh“, sagte er, und diesmal klang es unbehaglich. „Ich weiß nicht...“ Und dann schnaubte er, warf sich herum, robbte den Strand hinunter und verschwand in den Fluten, bevor ich noch eine weitere Frage stellen konnte. Er tauchte nicht wieder auf, und ich fragte mich, ob sein ‘Ich weiß nicht’ bedeutet hatte, dass er nichts darüber wusste, oder dass er sich nicht sicher war, ob er mit mir darüber reden durfte.

Ich wanderte wieder zurück zu unserem Haus und verbrachte den Rest des Vormittags mit Lesen und dem Lauschen auf den Sturm, der langsam stärker wurde. Gegen Mittag kam ein Anruf meiner Mutter, die geschäftlich in Schottland war (sie vertritt die Geschäfte der Familie in ganz Nord- und Westeuropa) und jetzt dort festsaß – Schiffsverkehr und Flüge waren eingestellt. Ich erzählte ihr nicht von meinem Traum.
Zum Mittag gab es Backfisch und Röstkartoffeln, und ich richtete mich auf noch mehr Faullenzen und einen langen Sturmabend ein, aber dann erschien einer der Diener mit der Nachricht, im Hafen wäre ein Folger und wollte mich sprechen. Das war mehr als ungewöhnlich, denn normalerweise meiden Folger Menschenorte wie Häfen, aber, dachte ich, als ich mir eine Jacke anzog und auf mein Motorrad stieg, wenn er mich tatsächlich unbedingt sprechen wollte, war das der einzige Ort, wo das im Augenblick möglich war. Am Strand tobten die Wellen, und selbst für einen Folger wäre es zu gefährlich, durch die Brandung zu schwimmen, und auf der Wattseite war Ebbe und nur im Hafen genug Wasser, um bis zur Küste zu kommen.

Als ich zum Hafen hinunter kam, sah ich ihn im Hafenbecken schwimmen. Etwa ein halbes Dutzend Menschen war hier, trotz des Sturms, und natürlich hörte ich Bemerkungen wie „Sieh mal, der Seehund!“, bis jemand richtigerweise bemerkte, dass dies kein Seehund wäre, sondern eine Kegelrobbe.
Ja, das stimmte: Der Folger hatte die Gestalt einer großen, alten Kegelrobbe, mit einer weißen Narbe, die sich vom rechten Auge über den halben Kopf zog. Er war groß, wirklich alt (Folger werden älter als Menschen) und mächtig, und ich kannte ihn nicht, was bedeutete, dass er sich normalerweise nicht um Überwasserangelegenheiten kümmerte.
Er hielt sich von den Leuten am Ufer fern, aber als ich zur Kaimauer ging, an der Seite, wo keine Boote lagen, schwamm er zu mir herüber. Ich hockte mich an die Molenkante und sagte: „Sei gegrüßt, alter Onkel“, was so ziemlich die respektvollste Anrede von einem von uns an einen Folger ist.
„Sei gegrüßt, junger Herr“, antwortete er würdevoll, was mich verwunderte, denn bei seinem Status hätte er mich durchaus mit ‘mein Junge’ anreden können.
„Seltsame Dinge geschehen am Strand“, sagte ich, denn ich war mir ziemlich sicher, dass er hier war, weil sein jüngerer Verwandter ihm von meinem Erlebnis berichtet hatte.
„Sie pfeifen und reißen den Himmel auf“, sagte er und klang düster und besorgt. „Sie tanzen Knoten“ – er benutzte ein Wort, dass einen absichtlich gemachten Knoten in einer Leine bezeichnet und nicht etwas, das sich versehentlich verheddert hat – „für den Sturm. Das ist nicht gut. Und du hörst sie, Sturmblut?“
Es war nicht leicht, ihn zu verstehen, weil er die Wassersprache benutzte, sie in seiner Gestalt als Kegelrobbe aber nicht sauber aussprechen konnte. (Es gibt auch eine Robbensprache, aber die umfasst nur ungefähr vierzig Wörter, und die meisten davon haben mit Fisch zu tun). Ich sprach Deutsch, was er offensichtlich mühelos verstand, denn ich erregte schon Aufmerksamkeit genug dadurch, dass ich hier mit der Robbe redete, auch ohne vor aller Ohren die Wassersprache zu sprechen.
„Sie reißen den Himmel auf“, sagte er noch einmal, „für einen bösen Sturm und eine mächtige Flut. Meine Ahnen und die Ahnen meiner Ahnen ...“ – es war schwierig, ihn zu verstehen – „... Wellen ...“ (er benutzte ein seltenes Wort für ‘Wellen’, dessen Bedeutung ich nicht ganz verstand) „... und jetzt Wellen ...“ (diesmal das normale Wort für alltägliche Wellen) „... über das Land, und Folger schwimmen.“ Er tauchte kurz ab, dann wieder auf und sah mir direkt in die Augen. „Die Flut ist nichts ohne den Sturm“, sagte er sehr deutlich und mit Nachdruck. „So ist es, Sturmblut: Die Flut ist nichts ohne den Sturm.“ Dann tauchte er, und ich sah, wie er schnurstracks den Weg aus dem Hafenbecken nahm.
Ich ging sehr nachdenklich zu meinem Motorrad. Was hatte diese Begegnung zu bedeuten? Er hatte mir bestätigt, dass das Getanze am Strand ein Ritual gewesen war, um den Sturm zu rufen, wie ich es schon vermutet hatte. Aber was war daran so wichtig, dass einer der mächtigsten Folger des Nordatlantiks kam, um mir diese Botschaft zu überbringen? Und wieso mir?

Ich fuhr nicht nach Hause, sondern ich machte mich auf den Weg zur Teestube. Sie bleibt auch im Winter geöffnet, weil es kein Touristenlokal ist, sondern ein Treffpunkt für Einheimische und im Sommer auch für Segler. Es gibt dort Tee und andere heiße Getränke, Waffeln und Pfannkuchen und auch Röstkartoffeln, wenn einem nach etwas Warmem zu essen zumute ist.
Mit einem Motorrad durch den Sturm zu fahren, der jetzt ein ausgewachsener Orkan war, wäre für einen Menschen selbstmörderisch gewesen, aber für mich als ‘Sturmblut’ (da war mir offensichtlich ein neuer Unterwassername verliehen worden) teilten sich die Böen. Ich fragte mich, warum sich der Sturm so leer anfühlte. Normalerweise nutzen meine Verwandten, die Sturmreiter, jeden Orkan für einen wilden Ritt. Ein großer Sturm gibt ihnen die Kraft, für längere Zeit menschliche Gestalt anzunehmen, und oft tauchen sie dann bei mir auf, was normalerweise in einer wilden Party endet. Wir landen meist irgendwo, wo eine Gruppe live spielt, und sie leihen sich Instrumente von der Band und jammen mit ihnen, was dann zu einem wilden Durcheinander führt und zu großartiger Musik. Aber in diesem Sturm gab es keine Spur von ihnen.

Bei der Teestube angekommen parkte ich mein Motorrad hinter dem Haus, wo zwei Männer standen und im Windschatten der Düne rauchten. „Das sind nie im Leben Möwen“, sagte der eine, und der andere meinte: „Was denn sonst? Sie fliegen nur sehr hoch, deshalb sehen wir sie als Silhouette“, und ich dachte, dass das nicht stimmen konnte, denn die Sonne stand schon tief, und sah nach oben. Dort oben sah ich sie kreisen, dunkel wie Sturmwolken, auf Flügeln, wie keine Möwe sie je hatte. Oh ja, jetzt verstand ich, warum der Folger gesagt hatte „sie pfeifen und reißen den Himmel auf“, und warum die Sturmreiter sich nicht blicken ließen, und nein, das da oben waren keine Möwen.
Neben dieser Welt gibt es noch viele andere. Sie grenzen an unsere und sind von ihr nur durch eine dünne Wand getrennt, aber normalerweise sind die Wände zwar dünn, aber undurchdringlich. Zu besonderen Zeiten aber und an besonderen Orten können die Wände durchlässig werden, in der leeren Mitte einer alten Wüste etwa, im Dunkel eines tiefen Waldes oder im Schnee der Berge – oder im Herzen eines großen Sturmes.
Das hatte die Gestalt getan, als sie am Strand pfiff: Sie hatte den Himmel über dem Sturm aufgerissen und eine Verbindung zu einer anderen Welt geschaffen, zu einer Sturmwelt. Von dort her floss jetzt Kraft in den Sturm, lud ihn auf und machte ihn zu einem Orkan, der so auf der Erde nicht hätte entstehen können. Und noch etwas anderes war durch die Öffnung herübergekommen: die dunklen Jäger dort oben mit ihren Sichelflügeln. Deshalb ließen sich die Sturmreiter nicht blicken – sie hatten keine Lust, denen vor die Schäbel (oder Reißzähne?) zu geraten.

In der Teestube bestellte ich mir eine heiße Zitrone. Es waren ziemlich viele Leute hier, tranken Pharisäer oder Glögg und unterhielten sich leise, waren lieber hier und mit anderen zusammen als alleine zu Hause zu sitzen und sich Sorgen über den Sturm zu machen. Der Wirt hatte einen Fernseher auf die Theke gestellt, und es lief das Dritte Programm, ohne Ton, bis wieder eine aktuelle Sendung kam und jemand den Ton hochdrehte. Dann sahen wir die neusten Nachrichten über die Baulücke im Deich bei Büsum, die mit Sandsäcken geschlossen wurde, und überspülte Strandpromenaden, und grüne, sandbeladene Brecher, die sich gegen das Kliff dieser Insel warfen.
Wenn dann das normale Programm weiterging und der Wirt den Ton wieder ausstellte, spielte er leise Musik, meist irgendwelche klassischen Songs. Jetzt gerade war es ‘A Whiter Shade of Pale’, und ich trank meine heiße Zitrone und dachte darüber nach, was dies alles zu bedeuten hatte. Warum rief jemand einen Sturm und lud ihn mit der Kraft anderer Welten auf? Wer war dieser Jemand? Der Folger hatte ‘sie’ gesagt, gab es also mehr als nur die eine Gestalt, die ich gesehen hatte? Warum hatte ich von diesem Ritual geträumt? Warum hatte der Folger mir seine Botschaft gebracht? ‘Die Flut ist nichts ohne den Sturm’ – das war offensichtlich. Aber vor allem: Was hatte das alles mit mir zu tun?
Ich schrak hoch, als jemand pfiff, aber das hatte gar nichts mit dem Sturm zu tun, es kam aus den Lautsprechern – die Scorpions, ‘Winds of Change’. Winds of Change, dachte ich – welche Veränderung würde dieser Sturm bringen?
Inzwischen trank ich eine heiße Schokolade, auf dem Fersehschirm wiederholten sich die Bilder und die Leute im Raum unterhielten sich leise über alles außer dem Sturm. Jedes Mal, wenn eine Bö das Haus traf, ließ sie die Balken knacken und die Luft hier drinnen ein wenig dichter werden. Ich ließ meinen Blick schweifen, über die Stiche von Leuchttürmen und Segeljachten an den Wänden, den Sextanten in seinem Glaskasten – echt, keine Imitation für Touristen – und die historische Karte an der Wand. Die Karte ... ich erstarrte. Sie zeigte das Land an der Nordsee, wie es vor der großen Sturmflut von 1634 ausgesehen hatte, die großen Inseln, die es damals noch gab, und darüber in Rot die Konturen der winzigen Reste, die davon heute noch übrig waren. Und grau unterlegt zeigte sie darunter das Land, bevor es die Grote Mandränke 1362 in Inseln zerrissen hatte ... und alle Puzzleteile fielen an ihren Platz.
Ich verstand jetzt, was der Folger gesagt hatte. „Dies wird ein böser Sturm und eine mächtige Flut, wie jene zur Zeit meiner Ahnen und davor der Ahnen meiner Ahnen“ – er hatte die Endungen nicht richtig aussprechen können, die den Worten den zeitlichen Zusammenhang gaben. „Große Sturmfluten waren das“ – das hatte das Wort bedeutet, das ich als ‘Wellen’ verstanden hatte – „und jetzt gehen Wellen über das, was früher Land war, und Folger schwimmen dort.“ Das hatte er gesagt – dass diese Flut so schwer werden würde wie jene von 1634 und 1362. Und dann, zu mir: „Die Flut ist nichts ohne den Sturm.“ Und das bedeutete, dass jemand dafür sorgen musste, dass der Sturm seine übernatürliche Kraft verlor, denn dann würde auch die Flut nur eine natürliche werden, und der konnte die Küste standhalten. Jemand musste den Riss im Himmel schließen, und offensichtlich sollte ich dieser Jemand sein.
Konnte ich das? Ich hatte keine Ahnung, wie ich das machen sollte, aber vielleicht gab es jemanden, der es mir sagen konnte. Und es gab einen Ort, an dem ich Hilfe finden konnte – vielleicht.

Ich stand auf und ging hinaus, stieg auf mein Motorrad und fuhr zu den alten Steinen. Es war kein weiter Weg, aber ich musste vorsichtig fahren, und selbst mir nahm der Sturm den Atem.
Die Menschen sind sich nicht darüber im Klaren, was die alten Steine tatsächlich sind, obwohl sie einst von Menschen errichtet wurden. Manche halten sie für ein vorzeitliches Grab, andere für eine Kultstätte, aber sie sind etwas ganz anderes.
Als ich jetzt in der einbrechenden Dunkelheit neben den aufgetürmten Findlingen stand, war die Luft ganz still, und der Wind zischelte nur über sie hinweg. Dieser Ort ist getränkt von der Kraft der Erde, und Meer und Sturm haben hier keine Macht. Ich legte meine Hände auf die Steine und spürte ihre tiefen, tiefen Wurzeln, die sie mit der Erde verbinden und die ganze Insel durchdringen, so dass das Meer sie nicht angreifen kann.
Früher hatte das ganze Land an der Nordsee den Schutz solcher Steine, aber über die Jahre und Jahrtausende geriet ihre Bedeutung in Vergessenheit. Sie wurden vernachlässigt und, schlimmer noch, schließlich als heidnische Überreste beseitigt, und die See konnte das Land zerreißen. Nur hier auf der Insel gab es Menschen – und uns –, die zu den Tag-und-Nacht-Gleichen im März und September im Morgengrauen die Steine mit neuer Macht erfüllten. Vielleicht würde ich hier die Kraft finden, die ich brauchte.
Zuerst einmal musste ich aber wissen, was ich überhaupt zu tun hatte. Dafür brauchte ich Hilfe, und das hieß, ich musste es riskieren, einen meiner Verwandten zu rufen. Ich schloss die Augen und rief, ein Ruf um Hilfe und Beistand. Dann öffnete ich die Augen wieder, und da stand er.
Er war ein Sturmreiter, aber in seiner menschlichen Gestalt sah er wie ein klassischer Hippie aus: lange Haare, natürlich, Jeans und eine weites Hemd, Halsketten und Ringe und eine große silberne Gürtelschnalle, und sogar Wildlederstiefel. Er hätte so in der ersten Reihe eines Doors-Konzertes stehen können, und vielleicht hatte er das auch getan. Sturmreiter kommen weit herum, und alle Naturwesen leben lange.
Er lehnte cool an den Steinen und fragte: „Brauchst du Hilfe? Was liegt an?“
Ich holte tief Luft. „Tut mir leid, dass ich dich hergerufen habe. Ich weiß, es ist nicht ganz ungefährlich, weil diese Viecher auf der Jagd sind...“
„Oh ja, davon kannst du ausgehen. Wir spielen schon den ganzen Tag Fangen mit denen, und wenn sie gelernt hätten, im Rudel zu jagen, dann hätte das dem einen oder anderen von uns den Kopf gekostet. Ich schätze, bis hier herunter kommen sie nicht...“ Er zuckte lässig mit den Schultern.
„Sie sind hier, weil jemand die Wand zu einer Sturmwelt durchbrochen hat, oder?“ fragte ich. „Sie sind mit durchgekommen, aber gemacht hat er es, um von dort Kraft abzuziehen. Er hat heute Morgen am Strand getanzt und gepfiffen und den Sturm heraufbeschworen...“
„Nein, die haben einen Sturm genommen, der sowieso entstanden wäre, und ihn nur aufgeblasen“, unterbrach er mich. „Und sie haben mit ihrem Getanze eine Leine daran festgemacht, um ihn in die gewünschte Richtung zu ziehen.“
Das also hatte der Folger gemeint, als er sagte „sie tanzen Knoten“. „Warte mal“, fragte ich nach, „du sagst ‘sie’. Ist das eine Gruppe? Was weißt du von denen? Was haben die vor?“
„Ich weiß nicht wirklich viel. Zum Beispiel kann ich dir nicht sagen, wer die sind, aber sie haben diesen Dreh raus mit dem Pfeifen. Das ist eine alte Technik, es gibt immer wieder Menschen, die das können, aber die haben ein richtiges System daraus gemacht. Sie spielen dieses Spiel schon seit ein paar jahren.“
„Dann ist dies nicht der erste Sturm, den sie beeinflussen?“
„Nein, der erste, von dem wir es sicher wissen, war der, der New Orleans getroffen hat. Da wurden wir auf sie aufmerksam.“
„Katrina?“ fragte ich erschrocken.
„Ja, der. Ich halte es übrigens für eine blöde Idee, Stürmen Namen zu geben, aber das nur nebenbei. Dann hatten sie einen oder zwei Taifune im Pazifik, glaube ich, und ganz sicher den Hurrikan, der New York absaufen ließ. Wann war das, letztes Jahr? Und jetzt kümmern sie sich um diesen Sturm hier.“
„Und sie ziehen ihn auf die Insel“, sagte ich leise.
„Nein, die Insel liegt nur im Weg, sie zielen immer auf Städte. New Orleans, dieser Hafen in Korea, New York, und jetzt soll die Flut die Elbe hochgehen und Hamburg erledigen. Das ist ihr Ziel.“
Die Gedanken wirbelten in meinem Kopf. „Können wir das verhindern? Wenn wir das Loch im Himmel schließen, verliert der Orkan dann so viel Kraft, dass die Flut beherrschbar bleibt? Dass die Deiche und die Flutmauern halten?“
Er überlegte. „Ich denke schon. Aber wir können das nicht – den Riss schließen, meine ich. Wenn wir das könnten, hätten wir es schon getan.“ Er sah mich forschend an. „Du könntest es vieleicht schaffen. Alle Wirklichkeit ist ein Spiel von Kräften, und die Kräfte dieser Welt sind aus dem Gleichgewicht geraten. In dir sind Erde, Meer und Wind, und du könntest sie wieder in Harmonie bringen. Willst du es versuchen?“
„Ja, aber nicht hier. Dieser Ort ist zu sehr von der Erde bestimmt. Ich weiß einen anderen, der sich besser eignet.“
Ich ging zum Motorrad, und er lächelte und sagte: „Lass mich fahren.“
Es war die schnellste und glatteste Motorradfahrt, die ich je hatte. Er teilte nicht nur den Sturm, sondern auch die Luft um uns, und wir fuhren ohne Luftwiderstand. Ich hatte kaum Zeit, ihm zu sagen, wo er abbiegen musste, dann waren wir schon da.

Der große alte Kirchturm ragte über uns auf. Es war der Turm, auf den es ankam, die Kirche war unwichtig. Als damals die neue Religion überall die alten Steine verschwinden ließ, hatten die Menschen hier diesen Turm errichtet. Er wurzelte in der Erde, ragte in die Luft und wandte sich gegen das Meer, seit achthundert Jahren. Wenn es irgendwo gelingen konnte, das Gleichgewicht wiederzugewinnen, dann hier.
Also gut. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte oder was ich überhaupt machen konnte, also sollte ich vielleicht erst einmal herausfinden, was genau schief lief. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf den Sturm. Das war leicht. Ich konnte ihn fühlen, dort draußen auf dem Meer, ein Monster, das sich träge drehte, ein wahnsinniger Wirbel, und ich konnte den Riss im Himmel sehen, ein schwarzer blinder Spalt. Kräfte strömten hindurch und füllten den Sturm, wild und chaotisch, und ich spürte, wie sie mich erfassten, das Kreischen des Sturms war in meinem Kopf und in meinem Blut. Selbst die Erde unter mir erzitterte, wenn die Brecher gegen die Insel rannten, und ich taumelte.
Ich stolperte gegen den Turm und klammerte mich an die Steine ... und dann veränderte sich etwas. Ich erkannte den Rhythmus, der unter allem lag. Da war ein tiefes, warmes Dröhnen, der langsame Basspuls der Erde, und dann der härtere Rhythmus des Meeres, der sich damit verband, komplex, aber durchaus harmonisch. Und selbst im Toben des Sturmes war noch ein Muster, ein elegantes Wirbeln, vielschichtig und fein gegliedert, und alles zusammen ergab fast so etwas wie Musik, eine große Harmonie, wie mein Verwandter gesagt hatte. Nur war da dieses Kreischen der fremden Kräfte, und das gehörte nicht hierher. Vielleicht war es an seinem eigenen Ort Teil seiner eigenen Musik, aber hier erzeugte es nur eine fundamentale Disharmonie. Ich musste das beenden, und ich wusste auch, wie.
Sie hatten diese Disharmonie herbeigepfiffen, und ich machte es ähnlich. Ich begann mit einem Brüllen, passend zum Puls der Erde, und dann einer Reihe von hellen Schreien, die den Rhythmus der See aufnahmen, und dann ein Pfeifen, aber ein anderes als sie, und es endete in einem Zischeln, wie der ersterbende Wind, und dann ging mir der Atem aus. Aber es reichte. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob ich tatsächlich irgend etwas bewirkt hatte, und dann krachte ein Donnerschlag, und ein Blitz erhellte die Wolken. Etwas hatte sich verändert.
„Tja, der Riss ist zu“, sagte der Sturmreiter. „Gut gemacht. Übrigens, du solltest in einer Band singen, mit einer Stimme wie dieser. Und deshalb holen wir jetzt die anderen ab, und dann suchen wir uns eine Party, wo du es ausprobieren kannst. Wir haben noch zwei Tage Sturm – normalen Sturm –, und das müssen wir ausnutzen.“
Er legte seinen Arm um mich und zog mich mit sich, und einen Moment lang fragte ich mich, ob ich mich nicht lieber mit einer heißen Mandelmilch ins Bett legen wollte, aber schließlich, dachte ich, bin ich ein Sturmblut, und es würde eine unvergessliche Nacht werden.

© P. Warmann