Ich stehe auf der Brücke und sehe in das Wasser, das ruhig fließt,
nur gekräuselt von kleinen Wellen und den Strömungen unter der
Oberfläche. Regen fällt und malt seine Kreise auf das Wasser.
Es ist kein unsympathischer Regen, ein warmer Frühlingsregen, der
die Leute nicht einmal ihre Jacken schließen lässt. Ich lehne
mit dem Rücken am Geländer, Menschen eilen an mir vorbei. Kaum
jemand hier, der Zeit vergeudet, die ich aufheben und einstecken könnte.
Aber ich bin auch nicht hier, um ihnen ihre Zeit zu stehlen, ich warte
auf jemanden.
Ja, ich bin ein Dieb. Allerdings kein gewöhnlicher Dieb: Gewöhnliche
Diebe stehlen Dinge. Ich stehle Zeit, oder den Glanz des Silbers,
oder die Passform handgefertigter Schuhe. Es gibt Käufer für
so etwas, und wo es Käufer gibt, gibt es Hehler. Und Diebe.
Ich drehe mich um und schaue über den Fluss, betrachte müßig
das Muster des Regens auf dem Wasser. Alle Muster spiegeln die fundamentale
Gestalt des Universums an ihrem Ort ... und dann verändert sich das
Muster.
Mir stellen sich die Nackenhaare auf, denn ich erkenne den Einfluss, der
hier am Werk ist. Hier? denke ich, und ganz in meiner
Nähe? Es ist nahe, aber nicht so nahe, dass ich die Quelle
erkennen könnte es sind zu viele Menschen um uns herum. Ist
es meinetwegen hier, oder ist es ein Zufall? Aber es gibt nur sehr wenige
echte Zufälle im Universum, und eigentlich nie, wenn einer von ihnen
im Spiel ist.
Dann löst sich eine Gestalt aus der vorbeihastenden Menge und steuert
direkt auf mich zu. Aber dies ist nur ein Mensch ein Mann, konservativ
und teuer gekleidet. Aus irgendeinem Grund bin ich überzeugt, dass
er ein Anwalt ist.
Er stellt sich neben mich und spricht mich an. Es freut mich, dass
Sie so kurzfristig einem Treffen zugestimmt haben.
Haben Sie einen Auftrag für mich? frage ich wenig interessiert.
Ich führe fast nur Auftragsarbeiten aus, ich stehle nur sehr selten
etwas für mich selbst.
Meine Klientin wünscht, dass Sie etwas für sie wiederbeschaffen,
antwortet er.
Ich werde sehen, was ich tun kann, erkläre ich. Dann
und wann nehme ich auch solche Aufträge an.
Er reicht mir eine Visitenkarte. Wir erwarten Sie dann heute Abend
gegen 21 Uhr, sagt er und geht.
Ich betrachte die Karte. Ja, er ist Anwalt. Und auf der Rückseite
steht Sie sind herzlich eingeladen, und eine Adresse. Als
ich mich zum gehen wende, merke ich, dass die Präsenz des Anderen
verschwunden ist.
Gegen 21 Uhr bin ich dann bei der Adresse, die auf der Karte stand. Die
Visitenkarte bringt mich ohne Schwierigkeiten hinein. Das Haus ist riesig,
der Garten ein Park, die Einrichtung von erlesenem Geschmack oder doch
zumindest sehr, sehr teuer. Ebenso die Gäste: konservative jugendliche
Eleganz, sorgfältig konservierte Frische, Gespräche über
Geld, Kunst, abwesende Bekannte, Geld, Smartphones, isländische Vulkane,
anwesende Bekannte oder Geld.
Ich wandere umher und bleibe vor einem Gemälde stehen. Ein Original,
natürlich, ein Meisterwerk der klassischen Moderne. Ich könnte
es stehlen ... das Bild, nicht die Leinwand mit der Farbe darauf, nur
das Bild, die Essenz des Bildes. Aber ich bin hier Gast, also kommt ein
Diebstahl überhaupt nicht in Frage.
Andererseits ... so eine Gelegenheit sollte man sich nicht entgehen lassen.
Ich lächle und lasse sie unauffällig in meiner Tasche verschwinden.
Es kommt bei einem Auftrag oft vor, dass man vor dem Ziel steht und sich einfach
keine gute Gelegenheit ergibt zuzugreifen dann ist es sehr nützlich,
eine aus der Tasche ziehen zu können.
Ich wandere weiter, meide die Fruchtbowle, lasse mir aber ein Glas Sekt
geben. Nachdenklich betrachte ich es. Wer hat mich herbestellt? Und warum?
Dann verändert sich das Muster der Gasperlen im Glas, und ich weiß:
Es ist hier. Die gleiche Präsenz wie auf der Brücke.
Ich sehe mich um, aber es sind zu viele Menschen hier, ich müsste
direkt neben ihm stehen, um ihn erkennen zu können. Unauffällig
mache ich mich auf die Runde.
Ich komme aber nicht weit. Neben mir erscheint der Anwalt und lächelt
verbindlich. Ich freue mich, dass Sie kommen konnten, sagt
er. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.
Er führt mich in den privaten Teil des Hauses, in das Arbeitszimmer
einer Dame. Eingerichtet in den üblichen Klischees, jedes Detail
so teuer wie möglich, und jeder Messingknauf ist perfekt poliert.
Die Dame hinter dem Schreibtisch passt dazu: ihr Alter liegt näher
an Dreißig als an Vierzig, Kleidung und Frisur sind erwartungsgemäß
vom Feinsten, und sie sieht ausgesprochen gut aus. Sehr attraktiv, ja,
aber ... sie sollte schön sein, aber sie ist es nicht.
Oh, sage ich.
Offensichtlich haben Sie mein Problem erkannt, sagt sie kühl.
Ja, man hat mir meine Schönheit gestohlen. Deshalb habe ich
Sie zu mir gerufen.
Ich will gerade zu einer Antwort ansetzen, als sich die Tür hinter
mir leise öffnet und wieder schließt. Schritte höre ich
auf dem weichen Teppich nicht, aber ich weiß, wer hinter mir steht
oder besser, welche Art von Wesen. Ich bleibe ganz ruhig stehen
und drehe mich nicht um, aber meine Nackenhaare sträuben sich, und
ich spüre die Präsenz hinter mir, eine unbeschreibliche Fremdheit.
Die Dame spricht weiter:In diesem Zusammenhang hat man auf Sie als
den Täter verwiesen. Deshalb sind Sie hier. Ich fordere mein Eigentum
zurück.
Ich ... was? Ich war es nicht! Ich könnte überhaupt nicht...
Wer hat Ihnen gesagt, dass ich es gewesen wäre?
Ihr zeitweiliger Auftraggeber und Hehler, erklärt der
Anwalt.
Dieser schrumpelige Mistkerl? Wie kommt er... Wütend
mache ich einen Schritt auf den Anwalt zu, oder besser, ich will es, denn
jemand legt mir seine Hand auf die Schulter. Ich nehme jedenfalls an,
dass es eine Hand ist, ich wage nicht nachzusehen. Statt dessen erstarre
ich und traue mich kaum zu atmen.
Der Anwalt lächelt. Er sagte, nur ein Wesen Ihrer Art könnte
einen derartigen Diebstahl bewerkstelligen, und außer Ihnen gäbe
es hier weit und breit niemanden sonst. Außerdem wären Sie
sowieso der einzige Dieb unter Ihresgleichen.
Ein Zeitnehmer, sagt eine Stimme hinter mir sanft ironisch.
Sie klingt vollkommen menschlich.
Ich hole tief Luft und versuche mich zu beruhigen. Offenbar gelingt mir
das, denn die Hand wird von meiner Schulter genommen. Darüber bin
ich extrem erleichtert. Nicht, dass sie mir Schmerzen zugefügt hätte,
es war nur eine leichte Berührung, aber sie hatte in mir ein tiefes
Gefühl der Unbestimmtheit erzeugt, das schwer zu ertragen war.
Ihre Informationen stimmen soweit, sage ich so ruhig ich kann.
Ja, nur einer von uns könnte so etwas stehlen, aber keiner
von uns würde es tun. Wir nehmen nichts von Menschen oder anderen
lebenden Wesen. Es ist gegen die Regeln.
Ach, wirklich? sagt der Anwalt sarkastisch.
Sie wissen nichts von uns, oder? Menschen haben Gesetze,
die sie aufstellen und die sie dann brechen können. Wir haben Regeln.
Regeln entstehen, wenn wir alle, jeder einzelne von uns, uns einig sind,
dass eine Sache auf eine gewisse Weise getan werden muss oder nicht
getan werden darf. Dann wird das zu einer Regel, und die Regel zu einem
Teil unseres Lebens. Wir können nicht dagegen verstoßen.
Aber genau das haben Sie doch getan, oder nicht? sagt der
Anwalt. Sie sind zum Dieb geworden, und dafür hat man Sie zu
Hause rausgeschmissen und Ihnen die Flügel gestutzt, sozusagen.
Ich habe nicht gegen die Regeln verstoßen! Es gibt keine Regel
dagegen, ein Dieb zu sein nur Regeln, die bestimmen, was dann geschieht.
Solange ich ein Dieb bleibe, kann ich nicht zurück, und ich kann
die meisten meiner Fähigkeiten nicht anwenden, aber das wusste ich,
als ich meine Entscheidung getroffen habe.
Aufgrund einer Regel, die einstimmig beschlossen wurde? fragt
die Frau. Also auch mit Ihrer Stimme? Sie klingt ungläubig
und fast verächtlich.
Ja, sage ich, denn sie ist gut und richtig. Aber das
können Sie wahrscheinlich nicht verstehen.
Der Anwalt schüttelt den Kopf. Trotzdem kann ich nicht...
Dann bricht er ab, denn in seiner Kleidung klingelt etwas diskret und
melodisch. Er zückt ein Telefon, sagt einige Male Ja
und Ich verstehe hinein und wendet sich dann an die Frau:Eine
Angelegenheit, die unsere Anwesenheit erfordert. Zu mir sagt er:
Sie müssen uns kurz entschuldigen, und zu meinem Bewacher:
Geben Sie gut auf ihn Acht. Dann gehen die beiden.
Mein Bewacher lacht leise. Kann ich mich jetzt umdrehen?
frage ich.
Ob du es kannst, weißt nur du, sagt er ironisch. Ich
jedenfalls habe nichts dagegen.
Also drehe ich mich um. Er sieht aus wie ein Mensch, ein Mann, recht jung,
recht groß, ziemlich gut aussehend. Unauffällig, wie die Quersumme
aller jungen, recht großen, ziemlich gut aussehenden Männer,
denen man auf der Straße begegnen könnte. Und genau das ist
er: ein Gestaltwandler, die makellose Imitation eines Menschen mit anderen
Mitteln.
Ein Gestaltwandler, denke ich. Ich bin noch nie einem von ihnen so nahe
gewesen, und ich bin keinem von ihnen mehr begegnet seit ... seit einer
Ewigkeit. Nein, seit mehreren Ewigkeiten.
Einer der Herren der Zeit, sagt er leise. Wenn auch
unter beschränkten Umständen. Man begegnet euch nicht oft.
Dann erscheint ein Messer aus seiner Hand. Ich sage aus, denn
genau so wirkt es: als flösse gestaltlose Substanz aus seiner Hand,
um sich augenblicklich zu einem Messer zu verdichten. Gestaltwandler können
das sie sind nicht nur fähig, die Form jedes Lebewesens anzunehmen,
dem sie mindestens einmal begegnet sind, sie können auch jederzeit
einen Teil ihrer Substanz abzweigen und daraus beliebige Gegenstände
formen.
Das macht sie zu gefährlichen Gegnern, auch, weil sie fast unmöglich
zu verletzen sind. Was kann eine Waffe gegen einen Körper ausrichten,
der sich teilt und wieder zusammenfließt, nicht wie Wasser, sondern
wie lebender Staub?
Dieses Messer hat eine Klinge, die aus einem einzigen Diamanten geschliffen
ist. Ich muss lächeln. So viel Aufwand für einen wie mich?
Ein rostiges Küchenmesser wäre völlig ausreichend.
Dann seid ihr wirklich so einfach zu töten? fragt er
leichthin.
Wir sterben fast so leicht wie Menschen, ja. Glaube mir, es stimmt,
mir ist das schon einige Male passiert. Sehr unangenehm. Tot zu sein ist
ein äußerst unglücklicher Zustand. Er dauert zwar nie
lange, aber ich versuche trotzdem ihn zu vermeiden.
Das Messer verschwindet, wie es gekommen war, und fließt zurück
in seine Hand.
Was soll das alles eigentlich? frage ich. Vor ein paar
Monaten benutzt jemand einen Zeitfresser, um mich zu erledigen, und jetzt
dies. Was geht hier vor?
Von einem Zeitfresser weiß ich nichts, sagt er, aber
ich weiß, dass auf deinen Kopf ein Preis ausgesetzt ist. Ich weiß
nicht von wem und nicht weswegen, aber ich kenne die Summe. Er nennt
sie, und ich hebe anerkennend eine Augenbraue.
Und du versuchst sie dir zu verdienen?
Vielleicht, sagt er zurückhaltend. Auf jeden Fall
versucht das aber dein Bekannter, der Hehler.
Danke für den Tipp, sage ich nachdenklich. Darum
werde ich mich kümmern müssen. Übrigens, du hast mich schon
auf der Brücke beobachtet, oder?
Hast du einen von uns gespürt? Mich oder einen anderen ...
uns unterscheidet nichts, wir fließen ineinander.
Blödsinn, sage ich freundlich. Das warst du, niemand
anderer. Ich konnte sehr deutlich dein persönliches Muster spüren,
dort wie hier.
Du siehst mein Muster? sagt er, verwundert, aber da ist noch
etwas... Ich komme nicht dazu, ihn zu fragen, denn der Anwalt und die
Frau kommen zurück.
Nun, wo waren wir..., beginnt der Anwalt munter, aber ich
unterbreche ihn.
Ich habe nachgedacht. Wie Ihr Sherlock Holmes sagt: Wenn wir
alle wahrscheinlichen Erklärungen ausschließen müssen,
weil sie unmöglich sind, dann ist das, was übrig bleibt, die
Wahrheit, so unwahrscheinlich sie auch sein mag. Nur einer von meiner
Art hätte Ihre Schönheit stehlen können, aber von uns kann
es keiner gewesen sein. Daraus folgt: Ihre Schönheit wurde gar nicht
gestohlen. Wahrscheinlich haben Sie sie einfach verloren.
Halten Sie mich für so unvorsichtig? braust sie auf.
Nein. Ich denke aber, dass Schönheit ein zerbrechliches Ding
ist, und wenn man sie ständig angreift mit Augenbrauenpinzetten und
Wimpernzangen, und wenn man Haarglanzspray und Gesichtlotion mit Faltenvorbeugungsformel
und Drei-Zonen-Deo über sie ausschüttet, dann bricht sie irgendwann
zusammen und verschwindet. In meiner Stimme liegt ein Hauch von
Verachtung. Wenn es Sie tröstet: Sie werden noch eine ganze
Zeit lang eine sehr attraktive Frau sein. Und jetzt gehe ich.
Ich wende mich zur Tür, aber natürlich ruft der Anwalt Halt!.
Dann wendet er sich an den Gestaltwandler: Töten Sie ihn!
Womit natürlich ich gemeint bin. Aber der Gestaltwandler rührt
sich nicht.
Ich verdopple Ihr Honorar, fügt der Anwalt gönnerhaft
hinzu.
Der Gestaltwandler bewegt sich so schnell, dass selbst mein Blick ihm
kaum folgen kann. Dann steht er vor dem Anwalt, das Messer wieder in seiner
Hand, die Diamantklinge nur einen halben Millimeter vor der Halsschlagader.
Wir töten schnell und leicht, sagt er. Manchmal,
selten, tue ich es für einen Auftrag, wenn er sich nur so erledigen
lässt; oft aus ganz persönlichen Gründen der
Anwalt wagt nicht einmal zu schlucken aber niemals gegen
Lohn. Und nicht ihn. Er macht einen Schritt zurück, und das
Messer ist verschwunden. Und jetzt gehen wir.
Niemand versucht uns aufzuhalten, als wir das Haus zusammen verlassen.
Warum nicht mich? frage ich, als wir vom Garten auf die Straße
treten.
Weil du mein persönliches Muster gesehen hast. Es gibt nur
wenige, die uns in unserer wahren Gestalt sehen können, und wir achten
das ... als ein Geschenk.
Oh, sage ich. Er hat mir gerade die Antwort auf ein altes
Rätsel enthüllt, über das das gesamte bekannte Universum
seit sehr langer Zeit grübelt: Wie sieht die wahre Gestalt
eines Gestaltwandlers aus? Jetzt kenne ich die Antwort: Seine wahre Gestalt
ist das Muster, das unter allen Formen bleibt, die er annimmt.
Jetzt erkläre du mir etwas, sagt er, während wir
weitergehen. Alle Wesen sterben, wenn man sie tötet, aber ihr
sterbt und kommt zurück. Warum?
Jedes Wesen, du, ich, die Frau dort drüben oder ihr Hund, hat
eine bestimmte bemessene Menge Lebenszeit. Die Existenz eines Wesens kann
erst endgültig enden, wenn seine Zeit abgelaufen ist. Das ist alles.
Hm. Die Zeit dieser Frau dort bemisst sich nach Jahrzehnten. Was
mir zur Verfügung steht, ist, er lächelt wieder, deutlich
mehr. Und bei dir?
Ich blicke nach oben, wo man trotz der Lichter der Stadt die hellsten
Sterne erkennen kann. Ferne Sonnen, und dazwischen gleitet mein Blick
in die Tiefe des Raumes. Alles hat einen Anfang und ein Ende, sogar das
Universum, aber...
Ich habe alle Zeit der Welt.
© P. Warmann