Orlando.

Es ist erst kurz nach Zehn, und es wird schon wieder heiß. Dieser Sommer verdient die Bezeichnung wirklich, denke ich, während ich auf der Terrasse sitze und frühstücke und einen Senfcreme-Croissant genieße.
Ich werfe einen Blick in die Geschäftspapiere, die Tilo Schmitz mir mitgebracht hat. Zwar stammt der weitaus größte Teil meiner Einnahmen aus dem unorganisierten Verbrechen, aber natürlich muss ich den Steuerbehörden auch erklären können, woher mein Wohlstand stammt. Eine Reihe von Nachtklubs, Immobilien und Firmenbeteiligungen hier und dort verschafft mir ein versteuerbares Einkommen und lässt sich auch nützlich zur Geldwäsche verwenden. Tilo Schmitz organisiert den Fluss meiner Gelder, der legalen wie der illegalen.

Im Augenblick sitzt er mit meiner Halbnichte Grit (sie ist die Tochter meiner Halbschwester) vor dem Fernseher, und die beiden verfolgen eine Sportübertragung. Normalerweise würde ich Fernsehen in Reichweite meines Frühstückstisches uneingeschränkt mit einem Bann belegen, aber Grit hat es geschafft, mich zu überreden, denn immerhin handelt es sich um Wasserspringen – und das bedeutet, dass extrem ansehnliche junge Frauen (jedenfalls, wenn man auf den eher sportlichen Typ steht, wie ich es tue) in sehr kleidsamen Badeanzügen sowohl in der Luft wie im Wasser allerlei ästhetische Bewegungen vollführen.
Heute allerdings sind die jungen Männer dran, und außerdem lenken mich die Geschäftsunterlagen ab. Tilo Schmitz dagegen hat sich von Grits sportlicher Begeisterung anstecken lassen, und die beiden kommentieren laut jeden einzelnen Sprung.
„Da, er verliert die Hechte! Halbfertiger Salto mit doppeltem Platsch ... höchstens viereinhalb Punkte, oder was sagst du?“ fragt er, und Grit bejaht und lacht.
Ich sehe zu den beiden hinüber. „Wieso werden Hechtsprünge eigentlich so viel höher bewertet?“ werfe ich ein.
„Na, weil es viel schwieriger ist, den Sprung sauber hinzubekommen, wenn du so einen Hecht unter dem Arm halten musst“, erklärt Grit. „Ich meine, der Fisch ist groß und glitschig, und wenn du ihn falsch anpackst, zappelt er – da, siehst du?“
Ich sehe es und gebe ihr Recht. „Und beim Delfinsalto...?“
„Nein, der heißt bloß so.“

Ich beschäftige mich wieder mit meinen Geschäftsunterlagen, bis ich Grit rufen höre: „Autsch, das hat wehgetan!“ Die Zeitlupenwiederholung zeigt mir einen fast perfekten Rückenklatscher, der mich zusammenzucken lässt.
„Das ist der Grund, warum ich unbedingt die Vorkämpfe sehen wollte“, erklärt Grit. „Im Finale bekommt man natürliche die besten Sprünge zu sehen, aber morgens sind noch die ganzen Anfänger dabei, und dann passieren viel lustigere Dinge.“
„Aus welcher Höhe springen die eigentlich?“ frage ich. „Sind das zehn Meter?“
„Ja. Bist du schon einmal vom Zehn-Meter-Turm gesprungen? Ich muss das unbedingt mal ausprobieren, aber bei uns im Schwimmbad sind fünf Meter das höchste.“
Da kommt sie nach ihrer Mutter, denke ich, die schon immer die sportlichste von uns Nicolaisens war, weswegen sie sich auch gerade nach einem schiefgegangenen Skateboard-Stunt im Krankenhaus langweilt und ihre Tochter die Ferien bei mir verbringt. Ich dagegen mag zwar Sport – Schwimmen und Squash, hauptsächlich –, scheue aber eher das Risiko.
„Das höchste, von dem ich je gesprungen bin, war das Drei-Meter-Brett“, sage ich nachdenklich. „Die Klippe, von der sie mich damals runtergeworfen haben, war aber, glaube ich, 17 Meter hoch.“
„Jemand hat dich von einer Klippe geworfen?“ Grit ist aufgeregt. „Wer? Und warum?“
„Ach, das war auf Ibiza. Sie hatten mir die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt und mich dann auch noch in einen alten Teppich gewickelt. Das mit dem Teppich war sogar eher von Vorteil, denn der hat den Aufprall ziemlich wirksam abgefedert. Und die Handschellen hatte ich natürlich schon auf, noch bevor ich unten ankam.“
„Klar, das hat Oma mir auch beigebracht. Und wer waren die Typen? Was hast du mit denen gemacht, später?“
„Gar nichts, das waren bloß Handlanger. Es ging um Grundstücksgeschäfte, und bei Grundstücksgeschäften in Spanien muss man mit so etwas immer rechnen.
Übrigens, da wir gerade von Geschäften reden...“ – ich gebe Tilo Schmitz die Unterlagen zurück – „... ich werde hieraus überhaupt nicht schlau.“
„Nicht?“ fragt er und grinst.
„Nein, ich begreife hiervon überhaupt nichts, und immerhin geht es um meine eigenen Geschäfte“, sage ich, und er grinst noch breiter. Ich muss auch lächeln. „Wenn nicht einmal ich da durchblicke, werden sich die Steuerbehörden die Zähne daran ausbeißen. Gute Arbeit, Tilo.“
Er packt die Unterlagen weg, dann fragt er: „Wo steckt eigentlich Olli?“
„Der hat sich den Tag freigenommen. Der Schrebergarten seiner Mutter ist von einer Rettichplage befallen, und er will ihr helfen damit fertigzuwerden.“
„Ollis Mutter braucht Hilfe? Ich dachte, die gärtnert gnadenlos alles weg, was ihr vor die Harke kommt“, meint Tilo.
„Ja aber das sind japanische Riesenrettiche, und die Sorte heißt, glaube ich, ‘Godzilla’.“
Grit lacht. „Was meinst du, könnte ich zu Olli fahren und ihm helfen?“
„Warum nicht“, sage ich. „Ich werde anrufen und ihn fragen.“
Olli geht sofort ans Telefon. Wann immer ich ihn brauche, ist er für mich da, und ich habe den Verdacht, er würde sogar seine eigene Beerdigung verlassen, um einen Auftrag für mich auszuführen. Weil ich das weiß, achte ich darauf, es nicht auszunutzen.
„Nein, keine Probleme hier“, sage ich, als er sich meldet. „Aber Grit würde dir gerne im Garten helfen. Wäre dir das recht?“
„Ja, ich denke schon... Pass auf, Mama, links von dir, links! ... wir könnten hier durchaus etwas Hilfe gebrauchen, aber ... Er versucht sich hinter der Regentonne zu verstecken ... Nimm die Hacke! Ja!“ Ich höre einen dumpfen Schlag und ein ziemlich scheußliches Knirschen. Dann ist Olli wieder da: „Ja also, wenn Grit herkommen möchte, dann wäre das in Ordnung, aber es könnte ein bisschen gefährlich werden...“
Grit hat das mitgehört, und ihre Augen leuchten. „Ja, toll!“ sagt sie strahlend.
Also lasse ich einen Wagen für sie kommen und schicke sie in den Kampf gegen die Invasion der Monsterrettiche. Tilo Schmitz geht auch, um sich der Aufgabe zu widmen, meine Geldströme in noch labyrinthischere Bahnen zu lenken – und die Steuerbehörden, denke ich, werden es wahrscheinlich nicht einmal schaffen, auch nur das Labyrinth zu finden.

Ich verbummele den Vormittag, oder was davon noch übrig ist, dann drifte ich Richtung Stadt, wo ich einen Termin für eine Maniküre habe, stöbere in einem Antiquariat und lande schließlich in einem Bistro, wo jemand mich anspricht, der eine Idee hat, von der er meint, dass ich an ihr interessiert sein könnte.
So läuft das mit dem unorganisierten Verbrechen: Ich komme mit Menschen ins Gespräch, die mir von ihren Plänen erzählen, und knüpfe Verbindungen mit Leuten, die ihnen vielleicht bei der praktischen Ausführung helfen könnten, und mit anderen, die gewisse Hindernisse aus dem Weg räumen können, und irgendwo verschwindet ein Container voller Perserteppiche.
Und meine stetigen Geschäfte, wie der Drogenhandel und die Spielklubs, werden für mich von Menschen geführt, die daran ein begründetes eigenes Interesse haben. Wir verdienen beide daran, und gewöhnlich muss ich mich nicht einmischen. Gut, natürlich gibt es dann und wann Probleme, aber die reiche ich an Tilo und die Anwälte weiter, wenn es sich um geschäftliche handelt, oder an Olli, wenn eher die direkte Aktion gefragt ist. Probleme haben in meiner Reichweite keine lange Lebensdauer.
Das Ganze besteht aus einer Menge loser Fäden, von denen nur ich weiß, was sie miteinander verbindet. Manchmal erwischt die Polizei einen von ihnen, aber er führt sie nirgendwohin.

Gegen Ende des Nachmittags lande ich dann noch in Gumbels Laden für nautische Antiquitäten, gelegen in der ‘Touri-Meile’, wo die Touristen kaufen, die Kreuzfahrt-Passagiere und die neu Zugezogenen, die sich mit Hafenstadt-Ambiente einrichten wollen. Vor dem Laden bleibe ich kurz stehen und genieße den prächtigen Blick auf Fluss und Hafen, auf den Kreuzfahrt-Kai und auf das, was die neue Konzerthalle werden sollte und jetzt eine beeindruckende Bauruine abgibt. Sie wird abwechselnd als Freikletterfelsen und als Übungsplatz der Feuerwehr genutzt, und manchmal wird noch darüber gesprochen, sie irgendwann fertigzubauen, aber ich sehe nicht, dass es dazu kommen wird.
Ich betrete Gumbels Laden und finde mich umgeben von Sextanten, Chronometern, blitzenden Messingfernrohren, Bootsmannspfeifen und Buddelschiffen. Manche sind mittelmäßige Originale, die meisten aber billige chinesische Imitationen oder erstklassige chinesische Repliken. Ein japanisches Ehepaar bewundert ein Chronometer, ein außerordentlich feines Stück, wahrscheinlich präziser gearbeitet als es je ein Original war, und ich denke darüber nach, dass sie um den halben Erdball gereist sind, um etwas zu kaufen, das vor ihrer Haustür produziert wurde. Aber darum geht es nicht: Sie kaufen nicht das Chronometer, sondern die Illusion, etwas zu besitzen, das ihnen Anteil an einer Seefahrerromantik bietet, die es nie gab. Und das ist vielleicht sogar den Preis wert.

Ich gehe nach hinten, um mit Gumbel zu reden, denn der Laden ist nur seine legale Tarnung. In Wirklichkeit handelt Gumbel mit Informationen, Daten und Gerüchten. Ich finde ihn in seinem Büro, das im Gegensatz zum Laden kühl und modern und voll computerisiert ist. Er sieht mich und erstarrt.
„Nicks? Wie kommen Sie denn hierher? Sie sollten tot sein!“
„Den Termin habe ich wohl verpasst“, sage ich und setze mich halb auf die Ecke der Fensterbank.
Gumbel schüttelt den Kopf. „Oh Mann! Wissen Sie denn nicht, wer hinter Ihnen her ist? Ich hatte davon gehört und war mir sicher, ich würde Sie nicht lebend wiedersehen.“
„Wer ist denn hinter mir her? Und wer hat ihn auf mich angesetzt? Das heißt, wer das war, kann ich mir denken: die Mafia – ‘das Original’. Die haben mir nicht verziehen, dass ich einen ihrer Leute ins Haifischbecken gekippt habe.“
Gumbel nickt. Er hat sich inzwischen wieder gefangen. „Stimmt, es war die Mafia, genauer gesagt deren Gebietsleiter Nördliches Mitteleuropa – der Mann sitzt in München und hat da einen Feinkostladen, Sie wissen schon, wen ich meine. Und wen die auf Sie angesetzt haben? Einen Typen mit Decknamen Orlando – der beste auf seinem Gebiet, heißt es.“
Mir sagt der Name nichts, aber was die Profikiller-Branche angeht, bin ich auch nicht so auf dem laufenden – ich neige dazu, so etwas eher hausintern zu regeln.
„Orlando, ja“, sagt Gumbel. „Er hat den Ruf, sehr präzise zu sein und sehr schnell. Deshalb dachte ich ja... Aber jedenfalls hat er in den letzten Jahren eine lange Liste von Erfolgen zu verzeichnen, und er macht kein Geheimnis daraus, welche Morde auf sein Konto gehen. Jeder weiß, was der Mann getan hat, aber nicht, wer er ist, und niemand hat ihn je gesehen – ihn gesehen und überlebt, meine ich. Alles sehr geheimnisvoll. Es steht nicht einmal fest, ob es überhaupt ein Mann ist, und er hat mehr falsche Identitäten als Ihre Mutter.“
„Niemand hat mehr falsche Identitäten als meine Mutter“, sage ich. „Sie steht dafür sogar im Guinness Buch der Rekorde – unter einem falschen Namen, natürlich.“ Ich denke immer noch über diesen Orlando nach. „Dann ist er ein freischaffender Killer? Kein Mitglied der Mördergilde?“
Gumbel lacht leicht gequält. „Kommen Sie, jeder weiß, dass es keine Mördergilde gibt.“
Ja, denke ich, jeder weiß das, oder ist überzeugt davon, das zu wissen, aber... Ich verfolge das Thema nicht weiter.
„Danke für die Warnung“, sage ich. „Wie gehen die Geschäfte?“
„Oh, ich kann nicht klagen. Der Kreuzfahrtboom ebbt zwar langsam ab, was mich einen Teil der Kundschaft kostet, aber das kann ich ausgleichen.“
„Ja, meine Mutter ist gerade in der Dominikanischen Republik, und da spüren sie das Ende des Booms auch. Im Moment entstehen rund um die Karibik Kreuzfahrthotels.“
Gumbel ist interessiert, und ich erkläre weiter: „Sie bauen die Hotels vor der Küste auf Felsen oder im seichten Wasser, und sie sehen genau wie Kreuzfahrtschiffe aus, nur ohne die teure Maschinerie. Drinnen läuft alles genau wie auf einem Schiff: Innenkabinen ohne Fenster, Showprogramm, lustige Spielchen an Deck und jeden zweiten Tag ein Ausflug per Motorboot zu einem netten kleinen Hafen mit großem Shoppingcenter.
Übrigens, meine Mutter hat Kontakt zu einem Konsortium, das sowas auch rund um die Ostsee bauen will. Würde das Sie interessieren?“
Das tut es, und ich empfehle Gumbel, sich mit Tilo Schmitz deswegen kurzzuschließen.
„Urlaub ist sowieso die einzige Branche, in die es sich im Moment zu investieren lohnt“, meint er. „Wir haben gerade die ultimative Urlaubsapp entwickelt. Du installierst sie, und dann gehen alle Fotos, die du im Urlaub machst, an uns, und wir kümmern uns darum. Wir sorgen für blauen Himmel und Sonnenschein, kopieren die Sehenswürdigkeiten ein, die du verpasst hast, verschaffen dir Sonnenbräune und hübschen deine Klamotten und deine Haare auf, wenn sie es nötig haben. Dann verfassen meine Leute zu den Bildern die passenden Texte – Texte machen den Leuten immer die meisten Schwierigkeiten – und posten es an jeden, der es bekommen soll. Und am Schluss gibt es noch ein durchgestyltes Fotobuch mit allen Erinnerungen an den Urlaub.“
„An einen Urlaub, den es so nie gegeben hat“, werfe ich ein.
„Ja, aber genau das ist doch der Punkt. Erinnerungen sind doch das einzige, was dir bleibt, und du möchtest, dass sie perfekt sind und nicht zugemüllt mit Regenwetter und Mückenstichen und ‘Leider heute geschlossen’-Schildern.“
Er strahlt mich an, und ich denke, dass ich offensichtlich altmodisch bin: Ich handle immer noch mit gefälschten Dingen, wo es doch so leicht wäre, die Erinnerungen zu fälschen – und die Gefühle, die dazugehören.

Ich verlasse Gumbels Laden und mache mich auf den Weg zum besten Fischrestaurant dieser Stadt, wo ich mit Grit zu einem frühen Abendessen verabredet bin. Sie erscheint dort kurz nach mir; sie hat sich feingemacht, denn wir haben danach noch einen Galeriebesuch geplant.
Ich beschließe, für uns ganze Seezungen zu bestellen. Während wir auf das Essen warten, erzählt sie mir begeistert von ihrem Kampf gegen die Monsterrettiche. In Ihrem Bericht kommt ziemlich oft das Wort ‘zerhackt’ vor.
Der Kellner bringt den Fisch, und Grit betrachtet ihn unschlüssig.
„Was ist“, necke ich sie, „du wirst doch mit einem ganzen Fisch fertigwerden. Du bist 13, das ist deine Chance, dein Grätendiplom zu machen.“
„Ja, schon, Mama macht zu hause schließlich oft genug gebratene Scholle...“ Sie nimmt den Fisch in Angriff, und ich sehe, dass sie Übung hat. Dann sagt sie: „Weißt du, Onkel Nicks, ich wette, die Hälfte der Leute aus meiner Klasse kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass Fisch so auf den Teller kommt. Ich meine, Gräten sind doch Müll, die kann man doch nicht drinlassen und erwarten, dass der Esser sie selber rausnimmt! Ganz ernsthaft, die halten etwas erst für essbar, wenn es fein zerkleinert, geformt und rechteckig zugeschnitten ist.“ Sie nimmt einen Bissen. „Das heißt, nein: nicht rechteckig. Es sollte schon Fischform haben, und mit einem breiten Lächeln.“ Sie sieht mich fragend an. „Ist etwas mit deinem Wein?“
Ich hatte, während sie sprach, das Weinglas zwischen meinen Fingern gedreht und forschend betrachtet. „Ja, ich denke schon“, sage ich und gebe dem Kellner ein Zeichen. Er materialisiert neben meinem Stuhl.
„Ich möchte den Wein zurückgehen lassen“, sage ich. „Er enthält zu viel Zyankali.“
Der Kellner wird blass. „Ich werde ihn prüfen“, sagt er und zieht ein Teststäbchen aus seiner Brusttasche. Als er es in den Wein taucht, erwarte ich, dass sich das Prüffeld ganz unten blau verfärbt, aber statt dessen wird ein anderes Feld in der Mitte grün.
„Strychnin“, sagt der Kellner erschüttert.
„Oh, da mag mich aber jemand gar nicht“, sage ich.
„Aber wir haben den Wein geprüft, bevor wir ihn dekantiert haben“, beteuert der Kellner.
„Es war auch nicht im Wein, es war im Glas“, erkläre ich. „Ein einzelner wasserklarer Tropfen... Ich habe die Schlieren gesehen, als er sich aufgelöst hat.“
Der Kellner entschuldigt sich, bringt mir neuen Wein, und diesmal prüft er ihn am Tisch.
„Er arbeitet schnell, unser Signore Orlando“, sage ich, und dann erzähle ich Grit, was ich von Gumbel über den Killer erfahren habe, und beruhige sie, denn sie wirkt doch etwas besorgt.

Nach dem Essen, und nachdem Grit die Urkunde für ihr Grätendiplom erhalten hat, begeben wir uns in die Galerie. Dort treffen wir auf eine gute Bekannte von mir, eine Bankerin und Expertin für zeitgenössische Kunst. Ziemlich seltsam ist, dass zwischen ihr und mir nie etwas gelaufen ist – uns verbindet unser gemeinsames Interesse an Kunst und Design. Wobei sie es ganz ernst meint und ich das Ganze eher für ein modernes Kuriositätenkabinett halte. Trotzdem, ich mag sie, und auch Grit versteht sich sofort mit ihr.
In dieser Ausstellung werden keine Gemälde gezeigt, sondern dreidimensionale Objekte und Skulpturen zu dem Thema ‘Der Blick in die Küche’. Was ich so sehe, erinnert mich an das Ergebnis der Auflösung eines besonders langweiligen Haushalts.
Meine Bekannte erklärt: „Diese Objekt heißt ‘Die begrabene Seite der Nudel’. Es ist eine Antwort auf die herkömmliche Food Art, bei der die Lebensmittel geradezu herausgeputzt werden und man versucht, sie auf besonders glamouröse Art darzustellen. Dagegen hat der Künstler hier die Nudel auf ihre einfachste, ja geradezu prosaische Grundform reduziert...“
Ich flüstere Grit zu: „Wenn du dir verkochte Nudeln an die Wand hängen willst, musst du nur meinen Koch fragen.“
Sie gibt mir einen Rippenstoß und sagt dann laut: „Anscheinend war zu viel Öl im Kochwasser.“
„Das ist der Schutzlack“, erklärt meine Bekannte ungerührt. „Und dieses Objekt hier...“
Ich setze mich unauffällig ab und mache eine Runde durch die Galerie. Die Galeristin ist gerade in ein Gespräch vertieft. „... ein Bekannter von mir, ich kann den Namen nicht nennen ...“, höre ich. „... er ist gerade finanziell in einer etwas angespannten Lage und muss sich von einigen Wertsachen trennen ... daher muss ich Sie um völlige Verschwiegenheit bitten ... natürlich ist der Teppich echt, und in allerbestem Zustand, aber Sie können gerne einen Gutachter Ihres Vertrauens hinzuziehen ...“ Und so, denke ich, wird demnächst ein weiterer Perserteppich aus der verschwundenen Containerladung seinen Besitzer wechseln. Nur dass sie, die ihn verkauft, nicht weiß, dass ich hinter der Sache stecke ... ach ja, lose Fäden, die im Nichts enden.

Gedankenverloren stehe ich vor einer Skulptur in der Mitte der Galerie, als eine rauchige Stimme in meinem Rücken sagt: „Und wie heißt dieses Kunstwerk?“
„’Requiem für das Dosenbier’“, sage ich ohne mich umzudrehen
„Und haben Sie dazu eine besondere Beziehung?“
„Wie man es nimmt. Es erinnert mich an meine Kinderzeit – es sieht aus wie die Ecke neben dem Supermarkt, nachdem die örtliche Säuferclique dort den Nachmittag über herumgestanden hatte.“
Jetzt drehe ich mich um. Sie ist klein – sie reicht mir nur bis zur Schulter, und ich bin nicht groß für einen Mann. Sie sieht verdammt gut aus, mit langen schwarzen Haaren, schlank, aber sportlich – wie gesagt, ich mag das – und sie trägt dunkle Ledershorts, etwas, das an den meisten Frauen albern aussehen würde, aber sie kann sich das leisten.
Sie lächelt. „Sie sind Nicks Nicolaisen“, sagt sie. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“
„Da haben Sie mir etwas voraus“, meine ich.
„Nina D’Alembert. ich bin geschäftlich in der Stadt, aber an diesem Abend habe ich noch nichts vor.“
„Ich könnte Ihnen die Stadt bei Nacht zeigen...“
„Ah, ich hatte einen harten Tag und möchte mich nur noch entspannen.“
„Ich habe ein großes Haus, und einen Whirlpool im Garten. Sehr erfrischend nach einem heißen Tag...“
„Das klingt verführerisch“, sagt sie und hängt sich bei mir ein, und ich denke, dass das jetzt sehr schnell ging, selbst für meine Verhältnisse. Und ich bemerke, als sie ihren Arm unter meinen schiebt, dass ‘sportlich’ es nicht ganz trifft. Sie ist mehr als sportlich, und vielleicht noch etwas anderes...

Grit scheint nicht besonders überrascht, dass Nina uns begleitet. Im Haus angekommen verschwindet sie diskret in ihr Zimmer, flüstert mir aber vorher noch zu: „Findest du das klug? Ich meine, nach dem, was mit deinem Wein passiert ist heute ... du kennst sie doch gar nicht – sie könnte sogar Orlando sein.“
„Mach dir keine Sorgen“, sage ich, aber wirklich zu beruhigen scheint sie das nicht.
Ich verbringe mit Nina eine entspannende Stunde im Whirlpool, dann ziehen wir uns in meine Räume zurück und ich lasse uns ein leichtes Abendessen bringen, und danach ... jedenfalls werde ich in dieser Nacht nicht ermordet.

Am nächsten Morgen treffen wir uns alle auf der Terrasse zum Frühstück. Grit ist da, Olli und Tilo Schmitz. Während Grit ungerührt bleibt und Ninas Anblick nur ein leichtes Lächeln auf Ollis Gesicht zaubert, ist Tilo Schmitz nervös. Das liegt auch daran, dass er inzwischen von der Bedrohung durch unseren Freund Orlando erfahren hat.
Nina dagegen sitzt entspannt in ihrem Korbsessel und lächelt Tilo an. „Haben Sie gut geschlafen?“ schnurrt sie. „Der Whirlpool hat mir wahnsinnig gut gefallen, und was wir danach gemacht haben ... das würden Sie nie erraten.“
Tilo wird erst rot und dann blass, und ich lächle und bestelle für mich zum Frühstück Currycroissants. Nina verabschiedet sich kurz, weil sie etwas zu erledigen hätte, und ich schenke mir eine Tasse Kaffee ein, Tilo ebenfalls. Grit trinkt Milch und unterhält sich mit Olli, und alles ist ganz wunderbar friedlich, aber nur für eine Minute. Dann kommt Nina zurück, aber nicht allein: Sie hat ein ganzes Rudel Polizisten dabei, mit und ohne Uniform.
In den nächsten Minuten wird es hektisch, und das, denke ich, unangenehmerweise noch bevor ich Zeit hatte zu frühstücken. Jedenfalls werde ich verhaftet. Der Grund? Das Verschwinden eines Typen namens Simon Weiß, der offensichtlich vor Jahren auf Ibiza hinter denselben Immobilien her war wie ich. Die Sache wurde aufgeklärt ‘in Zusammenarbeit mit unserer Kollegin von Interpol’, erklärt der Oberpolizist triumphierend und weist auf Frau D’Alembert. Interpol? Sie lächelt. Ich sage erst einmal gar nichts.
Der Rest ist Aufregung. Grit ist besorgt, Olli ein Fels in der Brandung, und Tilo Schmitz versucht mit allen Leuten gleichzeitig zu reden. Schließlich greife ich ein. „Olli, bitte kümmere dich um meine Nichte“, sage ich. „Tilo, beruhige dich und rufe meine Anwälte an.“
„Welche?“
„Alle. Einem von denen wird schon etwas einfallen.“
Dann lasse ich mir Handschellen anlegen (Handschellen? Haben die meine Akte nicht gelesen?) und mich widerstandslos abführen. Sie tüten mich in so einen Gefangenenwagen ein, und der fährt mit mir los, sonstwohin.

Das heißt, er fährt gar nicht weit, dann hält er. Ich bin zu diesem Zeitpunkt meine Handschellen schon losgeworden, natürlich, und ich bin nicht besonders verwundert, als die Tür sich öffnet.
Der Mann in der Tür ist ein Polizist in Uniform, außer, dass es gar kein Polizist ist. Er lächelt mich an, und ich lächle zurück, wenn auch mit etwas Mühe.
„Signore Orlando, nehme ich an?“ frage ich.
Sein Lächeln wird breiter. „So ist es. Ich bewundere Ihre Auffassungsgabe ... und, oh, Sie haben sich von den Handschellen befreit, wie wunderbar! Das war mein größtes Problem: Ihre Fingerabdrücke an genau den richtigen Stellen auf die Handschellen zu bringen, damit man annahm, Sie hätten sich selbst befreit. Denn wie sollten Sie sonst diese genommen haben?“
Er hält eine kleine weiße Tablette hoch. „Zyankali“, fügt er hinzu.
„Ich werde die bestimmt nicht nehmen“, sage ich ruhiger als ich mich fühle.
„Nein, wahrscheinlich nicht. Aber das macht nichts, dann benutze ich eben dies.“ Er hält etwas hoch, das ein bisschen wie eine Wasserpistole für Kinder aussieht, es aber nicht ist. „Eine Injektionspistole“, erklärt er. „Man findet die Tablette in Ihrem Mund, Zyankali in Ihrem Blut – man wird den winzigen Einstich übersehen. Und wenn man ihn doch findet...“ Er zuckt mit den Schultern. „Das Ergebnis ist dasselbe: Sie sind tot.“
Er richtet das Ding auf mich, und ich suche nach ein paar guten letzten Worten, aber mir will nichts einfallen. Egal. Es wären sowieso nicht meine letzten gewesen. Denn bevor er abdrücken kann, fällt etwas vom Dach des Wagens, etwas kleines, sportliches, in Ledershorts und mit langen schwarzen Haaren.
Dieser Orlando ist wirklich gut: Er schafft es sogar noch, eine Waffe zu ziehen. Das nützt ihm aber nichts, und als die Polizisten eintreffen, ist schon alles vorüber. Sein Bein ist wahrscheinlich gebrochen, denke ich, und der Ellenbogen ganz sicher ausgekugelt, nach dem Winkel zu urteilen, in dem er absteht, und Freund Orlando wird für längere Zeit eine Halskrause tragen müssen, so, wie es geknackt hat, als sie den Arm um seinen Hals legte und sein Kinn nach oben und hinten bog.

Während ich zusehe, wie Orlando unter schwerer Bewachung in einen Krankenwagen verfrachtet wird, treffen Grit, Olli und Tilo Schmitz ein. Sie sind den Polizisten gefolgt, und wir befinden uns nur zwei Straßen von meinem Haus entfernt. In das allgemeine Durcheinander hinein sage ich: „Gut, das war es dann hoffentlich. Gehen wir nach Hause, ich möchte endlich frühstücken.“
„Sie sind verhaftet“, erinnert mich der Oberpolizist.
„Wollen Sie das wirklich durchziehen?“ frage ich milde. „Dann muss ich Ihnen sagen, dass ‘Simon Weiß’ ein angenommener Name war, den ich damals benutzt habe, um einige Verhandlungen zu führen. Und ich kann das beweisen.“ Dass einige Leute wahrscheinlich bis heute der Meinung sind, sie hätten Simon Weiß beseitigt, indem sie ihn in einen alten Teppich gewickelt über eine Klippe kippten, erwähne ich nicht.
Frau D’Alembert lächelt. „Leider stimmt das. Ich muss mich entschuldigen, aber wir brauchten einen Vorwand, um Orlando diese Falle zu stellen. Gegen Herrn Nicolaisen haben wir nichts in der Hand – leider. Bitte nehmen Sie mir mein Vorgehen nicht übel – und ich gratuliere Ihnen zu der Verhaftung eines der meistgesuchten Verbrecher Europas.“
Das war es dann. Die Polizisten kommen nach kurzer Überlegung zu dem Schluss, dass Orlandos Verhaftung es mehr als aufwiegt, dass sie mich laufen lassen müssen. Sie nehmen es mit Stil – keiner macht eine Bemerkung der Art ‘wir kriegen Sie irgendwann doch noch’. Sie ziehen ab, meine Verhaftung wird nicht mehr erwähnt, und Nina D’Alembert bleibt. Sie hakt sich wieder bei mir ein, als wir zum Haus zurückgehen.
„Sie arbeiten also für Interpol?“ fragt Tilo Schmitz etwas furchtsam.
„Oh, manchmal schon, in gewisser Weise.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Jedenfalls habe ich schon die eine oder andere Verhaftung in die Wege geleitet, und hinterher fragt keiner mehr, zu welcher Abteilung ich denn eigentlich gehöre. Das ist eine gute Methode, um der Gilde die Konkurrenz vom Hals zu schaffen – und diesmal konnte ich gleichzeitig meinem großen Bruder helfen.“
„Tante Jenny!“ ruft Grit aufgeregt, aber Olli lächelt nur. „Du hast sie erkannt“, sage ich zu ihm, und er nickt. „Ich wusste, dass ihr etwas vorhattet, darum habe ich nichts gesagt.“
„Aber ... aber ... gestern Nacht“, stammelt Tilo.
„Gestern Nacht habe ich sehr erholsam geschlafen“, sagt meine Schwester, „auf der Liege im Ankleidezimmer. Und vorher habe ich mich lange mit meinem Bruder unterhalten, und wir haben dabei Fang-den-Hut gespielt. ich habe doch gesagt, ihr würdet nie erraten, was wir miteinander gemacht haben. Wenn ich allerdings die Nacht mit dir verbringen würde“, sagt sie und lächelt Tilo an, „würden wir, glaube ich, etwas anderes spielen.“
Tilo sieht aus, als wenn er nicht wüsste, ob er dieses Angebot annehmen oder flüchten soll, aber, denke ich, das müssen wir auch nicht vor dem Frühstück entscheiden.

© P. Warmann