Es klingelt an der Tür, ich mache auf, und draußen steht ein
Werwolf. Genauer gesagt mein Freund Henning in einem Werwolf-Kostüm.
Bei ihm ist seine Verlobte Kathrin wir sind verabredet, um gemeinsam
zu einer Gruselparty zu gehen.
Im Wohnzimmer sitzt auch noch Kurt, der ebenfalls mitkommen wird. Ich
betrachte Henning.
Dein Kostüm ist große Klasse, sage ich.
Er hat nicht einfach nur eine Maske vor dem Gesicht, nein, er trägt
eine alte Jeans und ein zerschlitztes T-Shirt, und auf den nackten Armen
und dem Körper, wo man ihn durch die Risse im T-Shirt sieht, sitzen
dichte Haare. Auch das Gesicht ist behaart, eine Mischung aus Wolf und
Mensch.
Tja, es zahlt sich aus, wenn man eine Maskenbildnerin kennt,
sagt Henning. Zwei Stunden hat es gedauert, aber das war es wert.
Trotzdem möchte ich bei Vollmond nicht so herumlaufen müssen.
Sich in einen echten Wolf zu verwandeln ist viel eleganter.
Denn das ist der besondere Witz an dem Kostüm: Henning ist auch im
richtigen Leben ein Werwolf.
Du siehst aber auch nicht schlecht aus, sage ich zu Kathrin.
Sie geht als sexy Hexe mit einem schwarzen Kleid im Fetzenlook. Die
silbernen Haarsträhnen gefallen mir besonders. Aber ist das Kleid
nicht etwas teuer für eine Hexe?
Sie grinst. Ich bin eben eine erfolgreiche Geschäftshexe, da
kann ich mir Designer-Fetzen leisten. Aber was ist mit euch? Ihr seid
noch nicht umgezogen, als was geht ihr?
Ich gehe als Vampir, sagt Kurt und entblößt die
verlängerten Eckzähne, die er sich schon früher am Abend
angeklebt hat. Ich könnte natürlich auch als Unsichtbarer
gehen er verschwindet kurz und wird wieder sichtbar
was auch etwas hätte, aber unsichtbar auf einer Party ist nicht
wirklich der Hit.
Dann nehme ich an, der Vampir geht nicht als Vampir? fragt
Henning in meine Richtung.
Sieh mich an, sage ich, das funktioniert nicht. Ich
sehe viel zu normal aus, um als Vampir durchzugehen. Die Leute wollen
einen unwahrscheinlichen Vampir, wie sie auch einen unwahrscheinlichen
Werwolf wollen.
Henning lacht.
Na, wenigstens nimmst du nicht so ein scheußliches Klappergebiss,
meint Kathrin zu Kurt und wendet sich dann an mich: Bekommst du
vor dem Biss eigentlich wirklich lange Zähne? Und wie ist das, haben
dein Eckzähne tatsächlich so einen Kanal in der Mitte, durch
den du das Blut saugst?
Kurt starrt sie leicht schockiert an, und ich glaube, dass Henning die
Augen verdreht, was man wegen der Wolfsmaske aber nicht so genau sagen
kann.
Kathrin wirkt etwas verlegen. Es ist nur, weil mein Vater in Dentaltechnik
macht, und Zähne haben mich schon immer fasziniert...
Nein, meine Zähne sind nicht hohl, sage ich. Und
ja, sie werden vor dem Biss wirklich länger, und nadelspitz, was
das angeht. Ich steche die Halsschlagader an, und ich muss nicht saugen,
weil da immer eine Menge Druck drauf ist. Das Blut schlucke ich auch nicht,
es ... verbindet sich irgendwie mit meinem Körper. Übrigens
habe ich mir schon früh angewöhnt, immer nur ein Loch
zu machen, denn bei zweien geht zu leicht etwas daneben, und das gibt
dann einen fürchterlichen Schmierkram. Ach so, und falls du dich
das fragst: Die ganze Sache geht nur mit lebendigen Menschen, Blutkonserven
nützen mir gar nichts.
Kathrin ist rot geworden. Tut mir leid, ich wollte nicht...
Das macht nichts, sage ich. Mir ist es lieber, die Leute
fragen und ich kann es ihnen erklären, als dass sie sich etwas furchtbar
Gruseliges vorstellen. Und da wir gerade bei gruselig sind:
Ich gehe jetzt mit Kurt hoch, wir ziehen uns um, und dann können
wir los.
Oben stehen Kurt und ich vor meinem Kleiderschrank. Das ist ein
Gehrock, sage ich, aus der Zeit um 1820. Probiere ihn mal
an.
Kurt tut es, und der Gehrock sitzt wie für ihn geschneidert.
Sehr schön, sage ich. Dunkle Wolle, schlicht, aber
elegant. Deine Hose passt dazu, das Hemd nicht so ganz, aber davon sieht
man ja nicht viel. Die Schuhe passen überhaupt nicht, aber wer kann
das heutzutage erkennen? Jetzt zeige ich dir noch, wie man ein Halstuch
bindet.
Ich betrachte Kurt, die moderne Version des Mannes, der ich einmal war,
aber im Gegensatz zu mir ein lebendiger Mensch. Als er geht, denke ich,
dass ich, als ich diesen Gehrock trug, schon seit neunzig Jahren Vampir
war, damals, vor hundertneunzig Jahren. Zeit ist für mich nicht das
gleiche wie für die Lebenden. Dann mache ich mich daran mich umzuziehen
für die Party.
Als ich nach unten komme, ist Kathrin gerade damit fertig geworden, Kurt
blasszuschminken.
Er soll doch wie ein unwahrscheinlicher Vampir aussehen, ruft
sie mir zu. Und dann: Ui du ganz in Weiß?
Ganz in Weiß stimmt so nicht, denn ich trage eine graue
Hose, aber dazu einen weißen Rollkragenpullover und darüber
einen weißen Kittel. Außerdem ein quietschbuntes Namensschild,
auf dem Dr. Strange steht, und eine genauso quietschbunte
Brille.
Lass mich raten, sagt Henning. Du gehst als verrückter
Doktor? Was ist das in deiner Brusttasche?
Dort steckt ein Dingens, das Kurt und ich früher am Abend gebastelt
haben, mit einer Spirale aus Alufolie und diversen Antennententakeln.
Todesstrahlen, sage ich trocken.
Kurt mustert mich kritisch. Deine Haare sind zu ordentlich,
sagt er, verschwindet kurz und kommt mit einer Tube Haargel zurück.
Damit verpasst er mir eine angemessen wirre Frisur, und dann können
wir endlich aufbrechen.
Es ist eine große Party, ungefähr zweihundert Leute sind gekommen.
Wir verteilen uns, Kurt taucht in der Menge unter, Kathrin und Henning
gehen zur Bar, ich suche mir ein stilles Plätzchen am Rande und sehe
mir die Leute an. Hennings Kostüm ist mit Abstand das beste. Es gibt
noch ein paar Werwölfe, den Tod in verschiedener Ausführung,
mal in der Skelett-Version, mal als Kapuzenmann mit Sense, dazu Gespenster,
Geisterpiraten, fiese Clowns, moderne Killer mit Maske und Kettensäge
und jede Menge Vampire, aber meist in der Art von Christopher Lee mit
Abendanzug und Cape ich habe noch nie in meinem Leben, als Lebender
oder als Untoter, ein Cape getragen. Außerdem sehe ich einen Henker
mit Beil und Haube und einen Typen, der aussieht wie Peter Lustig aus
der Kindersendung Löwenzahn. Entweder ist das schwer
ironisch, oder ich habe einen neueren Horrorfilm verpasst.
Bei den Frauen überwiegen die Hexen, es gibt sowohl die alten mit
Schrumpelnase und spitzem Hut als auch die jungen im Gothic-Stil. Dazu
kommen ätherische Weiße Frauen in fließenden Gewändern,
Morticia-Typen mit geschlitztem schwarzen Kleid, Dominas mit Korsage,
Stiefeln und Peitsche und Frankensteins Braut. Ihr Kostüm
ist fast so gut wie das von Henning.
So geht der Abend dahin. Kurt tanzt mit verschiedenen Frauen, Henning
und Kathrin tanzen viel und immer miteinander, ich tanze wenig, amüsiere
mich aber trotzdem.
Dann, gegen Mitternacht, breitet sich Unruhe aus. Offensichtlich ist irgend
etwas Unerfreuliches geschehen. Ich kümmere mich zuerst nicht darum,
aber dann schnappe ich auf von einem Vampir angegriffen. Das,
so denke ich, muss ich mir ansehen.
Ich treffe am Ort des Geschehens praktisch gleichzeitig mit Henning und
Kathrin ein. Im Gang, der zu den Toiletten führt, sitzt eine junge
Frau auf dem Boden. Sie trägt ein Geisterkostüm mit flatternden
Bändern in grau und weiß. Ihre rechte Halsseite ist blutüberströmt,
und ich kann deutlich zwei Einstiche erkennen.
Eine andere junge Frau, offensichtlich eine Freundin, stützt die
Verletzte. Er kam von hinten, glaube ich, sagt diese benommen,
aber ich kann mich nicht richtig daran erinnern.
Was für ein Idiot! schnaubt eine mollige Frau in rotem
Samt, die sich um die Verletzte kümmert. Da hat es einer mit
dem Vampir-Quatsch aber deutlich übertrieben.
Ihr Blick bleibt an Kurt hängen, der mit seinen falschen Zähnen
am Rande der Menge steht. Eine Frau im Leopardenkostüm legt ihre
Hand auf seine Schulter. Er war die letzte halbe Stunde ständig
mit mir zusammen.
Ach, es gibt Dutzende von denen hier, sagt die Frau in Rot.
Jeder kann es gewesen sein. Jedenfalls war es ein wirklich schlechter
Scherz. Und zu der Verletzten: Ich rufe Ihnen ein Taxi, damit
Sie sicher nach Hause kommen. Dann hilft sie ihr auf die Beine.
Die Menge zerstreut sich, die Party geht weiter. Kathrin, Henning und
ich landen in einer einsamen Ecke. Warst du..., beginnt Kathrin,
aber Henning unterbricht sie. Nein. Das ist nicht sein Stil.
Ich war es nicht, sage ich nachdenklich, aber es war
ein Vampir. Das war ein echter Angriff. Also ist noch einer von uns in
der Stadt, und sogar in diesem Raum, und ich habe es nicht gespürt.
Bemerkenswert.
Ich sehe ihre erstaunten Blicke und erkläre: Es gibt nicht
viele von uns vielleicht vierzig Vampire in ganz Deutschland. Hier
in der Stadt war ich seit Jahren der einzige. Und wir erkennen uns, wenn
wir uns sehen, ganz gleich, in welcher Verkleidung einer steckt.
Ich blicke mich um. Ich wüsste gerne... Vielleicht ist er noch
nicht lange Vampir und hat deshalb die Nerven verloren. Wahrscheinlich
ist er danach rausgerannt ich wäre jedenfalls an die Luft
gegangen nach so einem Malheur. Mal sehen, vielleicht erwische ich ihn
noch.
Ich trete vor die Tür. Draußen ist es dunkel, die Luft ist
schneidend kalt und die Straße menschenleer. Ich sehe in einer Tordurchfahrt
nach, gleich neben dem Klub, aber auch dort steht niemand. Es ist auch
unwahrscheinlich, dass er sich noch in der Nähe aufhält, denke
ich, denn seit dem Angriff ist schon einige Zeit vergangen. Wahrscheinlich
hat er sich verdrückt.
Dann höre ich Schritte, jemand nähert sich. Ich sehe hoch, und
er ist es. Ein Vampir, groß, schlank, helle Haare. Niemand, den
ich kenne. Er eilt mit schnellen Schritten auf den Klub zu, sieht mich
nicht. Ich trete ihm in den Weg. Er erschrickt, und ich merke, dass er
erkennt, was ich bin.
Auf der Jagd? frage ich. Ich werfe einen Blick Richtung Klub.
Du solltest da nicht mehr reingehen. Vampire sind dort heute Abend
extrem unbeliebt.
Er sieht mich einfach nur an. Jung, denke ich. Sowohl in sterblichen Jahren
er muss ungefähr zwanzig sein als auch als Vampir.
Das ist er maximal seit einem halben Jahr. Mir gefällt das Kostüm,
das er gewählt hat: Sein grauer Jeansblazer ist mit einem großen
schwarzen Spinnennetz bestickt, und auf seiner rechten Schulter sitzt
festgeheftet eine handgroße wollige Plüschspinne.
Lass mich durch, sagt er, leise und heiser. Ich brauche
jetzt ... etwas, ich bin vollkommen leer.
Ich sehe ihn verwundert an, denn das, was er von dem Mädchen getrunken
hat, sollte mindestens vier bis fünf Tage reichen. Aber nach der
Länge seiner Zähne und den Schatten unter seinen Augen ist er
wirklich bis auf die letzten paar Tropfen runter. Und dann sehe ich noch
etwas: Unter seinem linken Ohr, dort, wo ich den Biss ansetzen würde,
hat er einen Einstich. Nur einen.
Dann gehe hier draußen auf die Jagd, sage ich. Wenn
du in diesem Zustand da reingehst oder noch einmal einen Fehler machst,
bringst du uns alle in Gefahr. Sieh mal da!
Passenderweise kommt gerade ein Mann die Straße entlang, auf unserer
Seite und ohne auf uns zu achten. Er geht an uns vorbei, und ich packe
kurz entschlossen zu. Ich schiebe ihn auf den Jungen zu, und einen Augenblick
glaube ich, er wird einfach stehen bleiben und nichts tun. Dann aber packt
er zu und beißt, von hinten ich greife immer von vorne an,
da ist der Winkel besser. Er trinkt, ziemlich lange, und diesmal geht
ihm kein Tropfen daneben. Dann lässt er sein Opfer los.
Der Mann taumelt auf die Straße. Ich versuche mit den Schatten zu
verschmelzen gar nicht so einfach in meinen weißen Klamotten.
Er blickt sich um, greift sich an den Hals, blickt sich wieder um, zuckt
mit den Schultern und geht weiter.
Komm mit zu mir, sage ich zu dem Jungen. Du kannst
ein paar Tage bleiben, ich habe genug Platz. Wir können über
Dinge reden, und ich kann dir ein paar Sachen zeigen, die dir weiterhelfen
werden.
Er sieht mich ernst an, jetzt wieder normal, ein sehr gut aussehender
junger Mann, in dem kein Mensch einen Vampir vermuten würde. Der
Einstich unter seinem Ohr ist verschwunden, wie alle Wunden bei uns verschwinden,
wenn wir gut getrunken haben.
Ich kann nicht, sagt er. Lass dich nicht mit mir ein.
Ich will dich da nicht mit hineinziehen.
Er dreht sich schroff um und geht, die Straße hinunter. Ich folge
ihm langsamer. Er geht nicht weit, dann blendet plötzlich ein Auto
am Straßenrand die Scheinwerfer auf. Die Wagentür öffnet
sich, und ich kann einen kurzen Blick auf den Fahrer werfen. Ein Mensch.
Dann steigt der Junge ein, und der Wagen fährt davon.
Sieh mal an, wer da in die Sache verwickelt ist, sagt eine
Stimme hinter mir. Ich drehe mich um, und da steht Kurt.
Ich bin dir gefolgt, als du nach draußen gegangen bist,
erklärt er. Unsichtbar, natürlich.
Was hast du gesehen?
Praktisch alles. Ich habe aber nicht gehört, worüber ihr
gesprochen habt.
Kennst du den Jungen?
Den Jungen nicht, aber den Mann, zu dem er in den Wagen gestiegen
ist. Ein Arzt. Er hat eine Klinik für Schlaganfall-Patienten und
Hirngeschädigte, aber privat ist er an Leuten mit besonderen
Begabungen interessiert. Ich war bei ihm und habe mich untersuchen
lassen ... aber der Kerl ist mir unheimlich.
Wir gehen zurück in den Klub, zu Henning und Kathrin und zu der
Leopardenfrau, die auf Kurt gewartet hat. Die anderen tanzen wieder. Ich
denke an den Jungen, den Arzt, und an einen Einstich unter dem Ohr. Diese
Geschichte ist noch nicht zu Ende.
© P. Warmann