Ich weiß nicht, ob ich diese kurzen Sommernächte lieben oder fürchten soll. Es bleibt so wenig Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. Seltsam und schön, wieder bei Licht unterwegs zu sein, auch wenn es nur das Licht eines nicht ganz dunklen Himmels ist, aber die Morgendämmerung kommt so verdammt schnell, und sollte mich der erste Sonnenstrahl treffen ... ich weiß nicht, was dann geschehen würde. Ich werde es auch nicht ausprobieren. Ich bin ein Vampir, und wahrscheinlich wäre es mein Ende.
An diesem Abend warte ich auf Henning, einen Freund, der bis vor kurzem in
meinem Haus gewohnt hat. Wir wollen ins Kino, zu einer Spätvorstellung
mit zwei alten Science-Fiction-Filmen. Kurt will auch mitkommen, der junge
Mann, der in Hennings ehemalige Zimmer gezogen ist. Er sitzt im anderen Sessel,
blättert in einer Zeitschrift und wird dann und wann für eine halbe
Minute unsichtbar. Als er wieder einmal auftaucht, wirft er mir ein schiefes
Grinsen zu. Alte Gewohnheiten, sagt er. Ich arbeite daran.
Es klingelt, Henning ist da. Er sieht uns beide, ausgehfertig, und runzelt
die Stirn. Kommt Gitte nicht mit?
Die ist oben und hat sich eingeschlossen. Liebeskummer, antworte
ich. Das Übliche: Erst war sie furchtbar verliebt, dann hat sich
die Verwandlung bei ihr angekündigt, und sie hat von jetzt auf gleich
mit ihm Schluss gemacht. Er ruft noch immer hier an. Ich habe Gitte geraten,
sie soll es wagen und ihm die Wahrheit sagen. Bei dir hat es schließlich
auch geklappt, und du bist mit Kathrin fest zusammen.
Wir werden heiraten Ende des Jahres. Du bist herzlich eingeladen ...
obwohl die Trauung natürlich am Tage stattfinden wird. Ja, aber ich bin
ein Werwolf. Das ist romantisch. Du bist ein Vampir, und das ist auch romantisch.
Kurt ist ein Unsichtbarer, und das ist zumindest geheimnisvoll. Aber was soll
sie ihm sagen? Schatz, es tut mir leid, aber ich verwandle mich manchmal
in eine Wildsau?
Stimmt schon. Also gut, lasst uns gehen.
Während ich die Haustür abschließe, sagt Henning plötzlich:
Ich glaube, du hast mal erwähnt, dass du 1703 geboren bist. Dann
hattest du doch vor gar nicht so langer Zeit deinen dreihundertsten Geburtstag.
Damals kannten wir uns schon, aber du hast nie etwas davon gesagt.
Ich bin 1703 geboren, ja, sage ich. Und 1731 gestorben.
Du kannst es untot nennen, immerhin laufe ich herum, rede und
sehe mir Filme an, aber mein Herz schlägt nicht, ich atme nur, um Luft
zum sprechen zu haben, und das einzige Blut, das ich in mir habe, ist das,
welches ich trinke. Glaube mir, ich bin tot. Seitdem feiere ich meinen Geburtstag
nicht mehr, und das andere Jubiläum werde ich auch nicht feierlich
begehen.
Henning sieht mich etwas seltsam an und lässt das Thema fallen. Statt
dessen wendet er sich an Kurt: Ich habe noch nie vorher von jemandem
gehört, der sich unsichtbar machen kann. Kannst du das steuern?
Ja, das kann ich. Ich mache es allerdings fast automatisch, wenn ich
nicht gerade direkt etwas mit Menschen zu tun habe. Das versuche ich mir jetzt
aber abzugewöhnen.
Weißt du, warum du es kannst? Wie hast du es herausgefunden?
Auf keine angenehme Art. Kurt verzieht das Gesicht. Mein
Vater hat die Familie tyrannisiert. Er ist auf alle losgegangen, auf meine
Brüder ich habe einen jüngeren und einen älteren Bruder
und auch auf unsere Mutter, aber meistens hat er es an mir ausgelassen.
Ich bin nicht an ihm vorbeigekommen, ohne dass er mich zumindest in den Türpfosten
gerammt hat.
Irgendwann lag ich wieder auf dem Küchenfußboden und er hatte mir
den Arm fast ausgerenkt und in die Rippen getreten, und ich habe gedacht alles,
was ich will, ist, dass er mich nicht mehr bemerkt. Ich bin aufgestanden,
und er hat einfach durch mich durchgesehen. Dann habe ich bemerkt, dass andere
Menschen mich offensichtlich manchmal auch nicht sehen konnten, und ich habe
ziemlich schnell herausgefunden, wie ich es an- und abschalten kann.
Henning sieht Kurt erschrocken an, aber der zuckt mit den Schultern. Das
sind alte Geschichten, sagt er.
Wir gehen weiter, aber wir kommen nicht weit. Ein Typ tritt plötzlich
vor uns in die schmale Gasse und raunzt: Halt! Keinen Schritt weiter!
Er ist groß, hat lange blonde Haare und trägt Schwarz, im Gothic-Stil,
mit vielen Schnallen und so weiter. Und er trägt tatsächlich einen
langen schwarzen Ledermantel mitten im Sommer! Im Ganzen sieht er aus
wie eine Mischung aus dem Typen aus Matrix und einem schwedischen
Black-Metal-Rocker. Nur hält er leider keine E-Gitarre in Spinnenform
in seinen Händen, sondern eine sehr funktionstüchtig aussehende
Armbrust. Mit der zielt er auf mich.
Wir bleiben stehen. Henning macht einen Schritt zur Seite, und Kurt ... Kurt
ist nirgendwo zu sehen.
Keine Bewegung! befiehlt der Typ und beginnt mit der linken Hand
etwas aus seiner Tasche zu nesteln. Er hat das offensichtlich geübt,
denn er schafft es, die Armbrust dabei ganz ruhig zu halten. Zum Vorschein
bringt er, natürlich, ein Kreuz, ein großes aus Silber.
Oh nein, nicht schon wieder, sage ich genervt. Lass es,
es funktioniert nicht. Du hast diese dämliche Anleitung im Internet gefunden,
nicht wahr? Handbuch für Vampirjäger? Was er darüber
schreibt, wie man einen Vampir aufspürt und identifiziert, das stimmt
ja, ich bin einer. Aber der Rest ist völliger Blödsinn.
Er sieht nicht so aus, als wenn er mir glaubt. Immerhin hat er nicht sofort
losgeballert. Seit dieses dämliche Geschreibsel aufgetaucht ist, habe
ich dreimal einen Armbrustbolzen im Herzen gehabt. Ich spüre dann keinen
Schmerz, aber es ist extrem unangenehm, so ein Ding dort stecken zu haben,
wo es definitiv nicht hingehört.
Knoblauch hat er auch dabei, sagt Henning, dessen Geruchssinn
auch in seiner menschlichen Gestalt sehr viel feiner geworden ist. Vielleicht
könnte er mir etwas davon abgeben. Ich koche viel und habe schon wieder
vergessen, welchen zu besorgen.
Sie halten sich da raus! brüllt der Typ. Sie haben
nichts zu befürchten ich bin nur hinter Vampiren her, nicht hinter
normalen Menschen.
Wenn du wüsstest, denke ich. Hören Sie..., beginne
ich, aber der Typ hört nicht. Er reißt die Armbrust hoch und schießt.
Mist, denke ich und versuche mich zu ducken, aber etwas prallt gegen
mich und reißt mich um oder jemand? und ich höre
das hässliche Geräusch, mit dem der Armbrustbolzen etwas trifft.
Ich komme hoch, auf ein Knie, und vor mir liegt Kurt, sichtbar, sehr blass,
und in seiner Brust steckt der Bolzen. Ein Blutfleck breitet sich aus auf
seinem weißen T-Shirt, viel Blut. Nein, denke ich. Das habe ich
befürchtet, seit fast dreihundert Jahren, dass einmal ein Mensch zu Schaden
kommt, einer meiner Freunde, wegen dem, was ich bin.
Ich habe niemals jemanden getötet, nicht als Mensch und nicht als Vampir,
aber jetzt bin ich bereit dazu. Ich stehe auf und sehe, dass der Typ noch
immer da ist, er blickt wie erstarrt auf das, was er angerichtet hat. Gut,
denke ich und mache einen Schritt auf ihn zu, und noch einen, und dann steht
Henning mir im Weg und sagt Nein.
Er hält seinen Arm wie eine Schranke vor meine Brust, mit einer Kraft,
die mehr als nur menschlich ist. Dennoch könnte ich ihn einfach beiseiteschieben,
aber ich mache es nicht. Er hat ein Recht, dies zu tun, als ein Freund.
Wirf nicht alles weg, was du dir aufgebaut hast, sagt er. Ich
kümmere mich um den da. Geh zu Kurt. Ruf einen Krankenwagen. Ruf die
Polizei.
Dann drückt er mir etwas in die Hand und marschiert auf den Typen zu,
dem es immer noch nicht eingefallen ist wegzulaufen. Er starrt Henning an,
und ich denke, er sieht in Hennings Augen das, was auch ich sehe, eine Ahnung
von dem Wolf, der Henning jetzt auch ist. Er versucht nicht einmal, sich zu
wehren, als mein Freund ihm die Armbrust aus der Hand schlägt und ihm
dann den Arm auf den Rücken dreht.
Ich blicke auf das Etwas, das Henning mir gegeben hat, und stelle fest, dass
es sein Mobiltelefon ist, und wähle und sage denen, dass sie den Notarzt
schicken sollen, und wohin, und die Polizei verständigen. Dann gehe ich
zu Kurt und frage mich, ob der Notarzt vielleicht zu spät kommen wird.
Aber Kurt geht es nicht ganz so schlecht. Er dreht den Kopf, als ich mich
neben ihn knie. Danke, sage ich. Das war sehr mutig von
dir. Und völlig unnötig, denn der Bolzen hätte keinen
echten Schaden anrichten können, aber das sage ich nicht. Der Krankenwagen
ist unterwegs. Ich ... ich kann dich nicht berühren, du blutest, und
wenn ich etwas davon abbekomme, verliere ich die Kontrolle.
Kurt lächelt ganz leicht und schüttelt den Kopf macht
nichts , und dann kommt auch schon der Krankenwagen, mit Blaulicht
aber ohne Sirene. Ein paar Minuten lang wird alles sehr hektisch, besonders,
als auch noch ein Streifenwagen eintrifft.
Henning erklärt, dass der Typ auf mich schießen wollte und Kurt
getroffen hat, der Typ erklärt, ich wäre ein Vampir und Kurt wäre
einfach so aus dem Nichts aufgetaucht, die Polizisten erklären ihn für
verrückt und verfrachten ihn in ihren Wagen. Eine sehr fähige Notärztin
erklärt mir, dass Kurt eine Menge Glück gehabt hat, denn der Bolzen
hat eine Rippe getroffen und ist daher nicht ganz so tief eingedrungen. Es
sei ernst, aber nicht unmittelbar lebensbedrohend, und ich könne ihn
morgen im Krankenhaus besuchen, was ich natürlich nicht kann, denn der
Sonnenuntergang liegt zu spät, dann ist keine Besuchszeit mehr.
Die Polizisten bitten Henning und mich, sie auf das Revier zu begleiten, damit
wir unsere Aussagen machen, und ich lege mir schon Ausreden zurecht für
den Fall, dass es dort zu lange dauern sollte. Ich muss unbedingt bis zum
Sonnenaufgang zu Hause sein
© P. Warmann