Silvester.

Silvesterabend. Ich sitze mit Gitte im gemeinsamen Wohnzimmer, wir warten auf meinen Freund Henning und dessen Freundin, denn wir wollen zusammen auf eine Silvesterfeier gehen.
Dies ist eine Art WG: Mein Haus ist in dreimal zwei Zimmer aufgeteilt, jeweils plus Bad, dazu eine gemeinsame Küche und ein großes Wohnzimmer. Wir alle in dieser Wohngemeinschaft haben so unsere ganz persönlichen Probleme: Ich bin ein Vampir, Gitte ist ein Wer-Wildschwein (was bedeutet, dass sie sich in unregelmäßigen Abständen in eine Wildsau verwandelt), und Henning, der vor kurzem hier aus- und mit seiner Freundin zusammengezogen ist, ist ein klassischer Werwolf. Das heißt, klassisch bis auf die Tatsache, dass er ein überzeugter Vegetarier ist. Davon lässt er sich auch als Werwolf nicht abbringen. Ich finde das bewundernswert.

Es klingelt, und Henning und seine Freundin Kathrin erscheinen. Wir setzen uns noch einen Augenblick ins Wohnzimmer, und ich denke, dass uns in diesem Moment niemand für etwas anderes als gewöhnliche Menschen halten würde.
„Wie habt ihr die Festtage überstanden?“ fragt Kathrin.
„Ich mache mir nicht viel aus Weihnachten“, sage ich. „Im Endeffekt ist es doch das Fest zur Wintersonnenwende, und das bedeutet, dass die Nächte jetzt wieder kürzer werden. Keine guten Aussichten für mich.“
„Dummerweise war genau am Heiligabend Vollmond“, sagt Henning. „Tja. Da kann man nichts machen. Wir haben einige längere Spaziergänge zusammen unternommen.“
„Wenigstens weißt du, wann es dich erwischt“, sagt Gitte etwas bitter. „Bei mir kommt das völlig unregelmäßig, irgendwann alle 24 bis 39 Tage. Zwar merke ich es ein paar Tage vorher, aber ich kann nie wirklich langfristig planen.“
„Wie hat es dich eigentlich erwischt?“ will Henning wissen. „Bei mir war es der klassische Werwolfbiss – ich kam vom Kino, er jagte Kaninchen in den öffentlichen Grünanlagen und ist einfach auf mich losgegangen. Ich frage mich noch heute, warum der Idiot das gemacht hat... War es bei dir ähnlich?“
„Nein, ich bin so geboren“, sagt Gitte, dreht verlegen am Stoff der Tischdecke und sieht nicht auf.
„Das ist möglich?“ Henning ist ziemlich verblüfft. Ich übrigens auch.
„So, wie die Geschichte in meiner Familie erzählt wird, ist meine Mutter beim Pilze sammeln von einem Wildschwein überrannt worden. Sie war zu der Zeit mit mir schwanger, und nach meiner Geburt hat sich die Sache irgendwie zwischen uns aufgeteilt. Ich verwandle mich körperlich in ein Schwein, behalte aber meinen Verstand ... und bei ihr ist es umgekehrt. Sie bleibt ein Mensch, hält sich aber für ein Schwein.“
„Du liebe Güte!“ Ich bin ziemlich erschüttert.
„Ja...“ Gitte steht auf. „Was ist, wollten wir nicht zur Silvesterparty?“

„Da fällt mir ein“, sage ich, „wir haben einen Nachmieter für deine Räume, Henning. Warum zeigst du dich nicht, Kurt?“
Neben der Anrichte scheint die Luft zu flimmern, und dann wird dort ein junger Mann sichtbar, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnt.
„Was ist das?“ fragt Kathrin verblüfft. „Ein Unsichtbarer?“
„Nein, nur getarnt“, sagt er mit leiser Stimme und einem schiefen Lächeln. „'Kurti das Chamäleon'.“
„Aber wie machst du das?“ hakt Kathrin nach, die immer alles genau wissen will. „Auf der Haut könnte ich das noch verstehen, aber auf der Kleidung...“
„Nein, ich färbe mich nicht um. Es ist eher so, als wenn ich das, was ich verdecke, auf meine Vorderseite projeziere. Ich weiß aber nicht, wie ich das mache.
Wie auch immer, ich glaube, ihr wolltet los. Ich wünsche euch viel Spaß bei der Party.“
„Du kommst mit“, sage ich. „Du solltest mehr unter die Leute gehen. Ich leihe dir auch eine von meinen schicken Lederjacken.“
„Ich hoffe, du ziehst dich auch noch um“, meint Kathrin.
„Was stört dich an meinem Norweger-Pullover?“
„Ich weiß nicht, aber irgendwie finde ich den für einen dreihundert Jahre alten Vampir nicht angemessen.“
Ich muss grinsen. „Das ist ein Klischee“, sage ich. „Wenn du im Jahre 1703 geboren worden wärst, wären für dich Schuhe mit wasserdichten Gummisohlen, gut sitzende Unterwäsche und flauschig weiche Pullover wie ein Geschenk des Himmels. Aber ich tue dir den Gefallen.“
Also gehe ich nach oben in mein Schlafzimmer (nein, ich schlafe nicht in einer Gruft, und schon gar nicht in einem Sarg; mein Schlafzimmerfenster hat lichtdichte Innenläden, und meine Bettnische Schiebetüren, die ich von innen verriegeln kann; das genügt völlig), ziehe mir einen schwarzen Rollkragenpullover an und nehme eine Lederjacke für Kurt mit.

Wir hatten uns eine Silvesterparty ausgesucht, wo wir weder durch komödiantische Einlagen noch durch Mitklatsch-Animateure genervt würden und auch von der Karaoke-Pest verschont blieben. Die anderen bestellen Sekt. Ich kann ihn nicht trinken; wenn ich in den Genuss von Sekt kommen will, muss ich mir jemanden suchen, der einen entsprechenden Pegel im Blut hat, und ihn anzapfen.
Also mache ich mich auf hinter die Kulissen, finde dort aber nur Typen, die schon seit Mittag zu viel durcheinander getrunken haben und denen jetzt langsam schlecht wird, und ein paar, die sich drittklassige Partydrogen einpfeifen. Nichts für mich.
So sitze ich mit Kurt am Tisch, sehe Henning und Kathrin beim Tanzen zu und denke, dass ich schon zu viele Silvesterfeiern erlebt habe. Zu viele Jahre, zu viele Freunde, deren Leben an mir vorbeigezogen sind. Aber es ist nicht gut für mich, zu lange darüber nachzudenken.
Daher stehe ich auf und tanze. Die Musik ist gut, und der Abend endet lustiger, als er begonnen hat. Ich finde doch noch das eine oder andere geeignete Opfer, trinke zu viel, tanze viel und schaffe es mit Kathrins Hilfe, Kurt auf die Tanzfläche zu zerren, wo er sich zu unser aller Verblüffung als Naturtalent entpuppt.
Als wir um Mitternacht zusammen auf der Straße stehen und dem Feuerwerk zusehen, denke ich, dass ich doch nichts dagegen habe, noch einige Sylvesterfeiern zu erleben.

© P. Warmann