Sturm und Geister.

Es war der letzte Tag des Oktobers, und es stürmte. Ich saß in unserem Wohnzimmer und hatte schlechte Laune; meine Frau nicht. Sie blätterte in einem Prospekt und warf mir dann und wann einen Blick zu, wie ich düster in den sturmzerzausten Garten starrte.
„Du hast doch noch Resturlaub“, sagte sie. „Wie wäre es, wenn wir den für ein paar Tage in den Bergen nutzen würden? Hier, sieh mal: ‘Unser Berghotel bietet einen unverbauten Blick auf die Waldsteiner Steilwand, von der man immer wieder Freikletterer mehr als siebzig Meter in die Tiefe stürzen sieht. Aber nicht alle Unfälle enden tödlich, und so kann man oft die Bergwacht bei spektakulären Rettungsaktionen beobachten’. Klingt doch gut.“ Sie reichte mir den Prospekt.
Ich sah mir die Sache an, war aber nicht überzeugt. „Und was ist sonst noch los in dem Kaff? ‘Europas einziges Hobelspanmuseum’, na großartig. Auf diese ‘spektakulären Unfälle’ solltest du dich auch nicht verlassen, sonst geht es dir wie Jutta. Im Katalog war von ‘fast täglichen Haiangriffen’ die Rede, und dann gab es in drei Wochen genau zwei davon, mit gerade mal einem abgebissenen Zeh.“
„Aber immerhin auch einen erstklassigen Motorboot-Zusammenstoß“, warf sie ein. „Na gut, dann nicht. Du hast heute aber auch eine miese Laune. Würde es dich ablenken, wenn ich die Nachrichten einschalte?“ Sie griff nach der Fernbedienung.
„Lass es“, sagte ich mürrisch. „Ich habe die vor einer Stunde gesehen, bevor du kamst. Das Europaparlament berät über Schwierigkeiten bei der Einführung des Einheitskekses, in Mölln ist eine artengeschützte Topfpflanze bis auf die Wurzeln niedergebrannt, der Bundesrat hat die Novelle zum Verordnungsdurchführungsverzögerungsgesetz gebilligt, und jemand hat den Weltrekord im Bleistiftessen gebrochen. Ach ja, und gegen Mitternacht soll es Feuer und Schwefel regnen.“
„Wunderbar“, sagte sie gar nicht sarkastisch. „Ich liebe dieses Wetter.“
„Ich ja auch“, gab ich etwas besänftigt zu und griff mir eine Zeitung.

Die nächsten zehn Minuten sagte keiner etwas, wir beide lasen. Draußen heulte der Sturm. Dann, ohne Warnung, ein brutales Krachen irgendwo oben, über uns, und etwas polterte in einem Regen von Dachziegeln auf die Terrasse. „Etwas hat den Schornstein getroffen!“ rief ich und stürzte ans Fenster. Etwas Dunkles schob sich in mein Blickfeld. Über uns, gefährlich niedrig, kämpfte ein großer Dreimaster mit dem Sturm.
„Wieder so ein holländisches Geisterschiff“, rief meine Frau aufgebracht. „Jetzt steigen sie, aber viel zu spät. Kannst du die Registriernummer erkennen?“
„Nein, kann ich nicht. Wir werden wohl auf dem Schaden sitzen bleiben.“ Ich spähte nach den Brocken, die vor dem Fenster lagen. Es sah aus wie eine Ecke vom Schornstein, Bruchstücke von Ziegeln und ... oh nein, nicht auch noch das.
„Das hat uns gerade noch gefehlt“, stöhnte ich. „Er hat den Geisterableiter vom Dach gefegt. Ausgerechnet heute! Richte dich schon mal auf unerwünschte Besucher ein.“

In der nächsten halben Stunde lauschten wir auf ungewöhnliche Geräusche und heiseres Kichern, aber alles blieb ruhig. Kein Geist ließ sich blicken. So wagte ich es, die Toilette aufzusuchen.
Ich hatte gerade die Brille hochgeklappt und war dabei, nach meinem Reißverschluss zu greifen, als das Wasser im Becken plötzlich zu wogen begann. Ich starrte darauf. Es ballte sich zusammen, nahm eine Form an, eine Faust aus klarem Wasser reckte sich empor, griff nach dem Beckenrand, dann erschien ein Kopf, kahl wie ein Ei, ebenfalls aus Wasser – ein Wassergeist. Er richtete seinen Blick auf mich und grollte.
„Äh“, sagte ich, „du bist hier definitiv fehl am Platze. Ist dir bewusst, wo du aufgetaucht bist?“
Er grollte fragend und sah sich um. Dann stieß er ein entsetztes Blubb aus, zuckte zusammen und zerfloss. Ich hörte noch ein sich entfernendes Rumoren in der Abflussleitung, dann war es still.

Zurück aus dem Bad ließ ich mich in meinen Sessel sinken und wollte meiner Frau gerade von meinem Erlebnis berichten, als etwas pfeifend und sausend durch den Kamin gerauscht kam. Es quoll aus der Öffnung, milchweiße Schwaden, die sich zu einem kniehohen Standardgespenst formten.
„Buhuu“, sagte es, „huiiiii, uhu-buuh.“ Und ich meine ‘sagte’ – es klang, als wenn es das gelangweilt von einem Zettel ablas.
„Raus!“ herrschte ich den Wicht an. „Was soll das denn – einfach hier reinschneien und sich dann noch nicht mal Mühe geben?“
„Tja, das sind meine Hausaufgaben“, erklärte er überheblich, „und da steht auch noch Kettenrasseln drauf und unheimlich herumschweben, und das ziehe ich auch noch ab, da kannste nix gegen machen.“ Sprach es und begann extrem lustlos mit seinen Ketten zu rasseln.
Dann, plötzlich, brach es ab. „Oh nein, oh nein, oh bloß nicht der!“ rief es und sauste zurück in den Kamin. Meine Frau und ich sahen uns an. „Ich glaube, wir bekommen Besuch“, sagte ich.

Ich trat ans Fenster. Den Gartenweg entlang schritt ein älterer Herr und schwang einen Spazierstock, der, wie ich wusste, einen Degen enthielt. Seine silbergrauen Haare waren makellos gekämmt.
Ich sah eine Böe auf ihn zustürmen, sie bog die Äste und fegte Blätter von den Bäumen. Als sie ihn bemerkte, drehte sie scharf nach rechts ab und rauschte voll in den Holzschuppen des Nachbarn, wo sie sich in Luftwirbel zerlegte. Die nächste Böe war entweder dumm oder von irgend etwas abgelenkt. Sie wich dem Mann nicht aus, sondern trieb geradewegs auf ihn zu und begann seine Haare zu zausen. Ohne hinzusehen schnappte er sich sie, drehte ihr mit einer Hand den Hals um und ließ sie leblos zu Boden sinken. Ihre Überreste trieben im Sturm davon.
Ich öffnete die Tür. „Hallo, Vater“, sagte ich. „An diesem Tag bist du uns ganz besonders willkommen.“

© P. Warmann