Andere Länder, andere …

New York, Manhattan, Public Library , Haupteingang
Tom (eigentlich hieß er Bartholomew, aber das hatte sich nicht durchgesetzt, und Tom war sehr glücklich damit) wartete auf seinen Kollegen Michael aus Deutschland, der am Vortag angekommen war. Sie wollten gemeinsam die Archive im Untergeschoss der New York Library durchforsten. Wonach, das wusste Tom jedoch noch nicht, aber er konnte ihm zumindest Zutritt verschaffen.
Er hatte sich gerade einen Kaffee an einem Frühstückswagen gekauft, als er Michael bemerkte. Er begrüßte ihn und fragte: „Na, gut geschlafen?“
„Nein – dieses blöde Apartment liegt in der 63rd Street East.“ Seine Müdigkeit war deutlich hörbar.
„Schön, Upper East Side, teure Gegend. Da hast du aber Glück.“ Tom beneidete seinen Kollegen etwas, aber Michael schien nicht wirklich glücklich.
„Das kann man so sehen, muss man aber nicht. Da geht morgens um 6:00 das Dauergehupe los. Der Häuserblock liegt nämlich an der Abfahrt der Queensboro Bridge und es scheint, als kämen dort alle Einwohner von Queens und Brooklyn durch. Und ich meine Alle.“ Michael brauchte dringend einen Kaffee.
„Hab Dich nicht so, das ist schließlich New York. Hier gehört das korrekte Hupen zur Fahrprüfung.“ Tom stammte zwar auch nicht aus New York, aber an die Geräuschkulisse hatte er sich einigermaßen gewöhnt.
„Immerhin gibt's hier keine Weckervögel, das ist wenigstens eine kleine Verbesserung.“
„Wettervögel? Was sind denn Wettervögel?“ Tom war verwirrt.
„Nicht Wetter – Weckervögel. Das sind alle Vögel, die in der Paarungszeit einen Wecker nachahmen. Kennst Du doch. Von irgendwoher hört man einen Wecker – BeepBeepBeep – BeepBeepBeep. Dieses Geräusch empfinden die Vögel als Konkurrenz um die begehrten Weibchen und denken sich: ‘Das kann ich besser’. Also ahmen sie das Geräusch nach und zwar deutlich lauter. Und wann fangen diese dämlichen Viecher mit dem Getöse an? Natürlich wenn's hell wird. Wann ist das? Bei uns zuhause ist das etwa ab 4:30.“
„Na also, da ist 6:00 doch echter Luxus. Sag ich ja, Upper East Side – nur vom Feinsten.“
„Ja, vielen Dank auch. Gibt's hier irgendwo einen trinkbaren Kaffee?“

© M. S.

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